„Trumps Chancen liegen bei 80 Prozent“

von Redaktion

US-Experte: Präsidentenrennen nach Attentat fast gelaufen, wenn Biden nicht zur Seite tritt

Das Führerscheinbild von Thomas Matthew Crooks. © dpa

„Animalischer Instinktpolitiker“: Trump nach dem Attentat. © AFP

An vielen Orten der USA, hier in Kalifornien, versammelten sich nach dem Attentat Trump-Anhänger. © Foto: EPA

München – Stephan Bierling leitet die Professur für Internationale Politik an der Universität Regensburg. In seinem neuen Buch „Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie“ blickt er auf ein Land, das so zerstritten erscheint, wie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr. Unsere Zeitung hat mit ihm über das Trump-Attentat und die Folgen gesprochen.

Professor Bierling, hat das Attentat auf Donald Trump den US-Wahlkampf vorzeitig entschieden?

Wahrscheinlich ist es so. Nach Joe Bidens katastrophalem Debatten-Auftritt und dem nun von Trump überlebten Attentat scheint die Wahl mehr oder weniger gelaufen. Ich würde sagen: Im Moment liegen Trumps Siegchancen bei 80 Prozent.

Weil Gerichtsprozesse und Skandale nun hinter dem heroischen Bild des Ex-Präsidenten verblassen, der blutend seine Faust in den Himmel reckt?

Genau. Dieses Bild wird die kommenden dreieinhalb Monate bis zu den Wahlen bestimmen. Es zeigt, welch animalischer Instinktpolitiker Trump ist. Das Bild hat jetzt schon ikonischen Wert – wahrscheinlich nicht nur für dieses Jahrzehnt, sondern für dieses Jahrhundert. Es ermöglicht Trump, sich als Verfolgten darzustellen, den nicht nur Gerichte und Demokraten zu Strecke bringen wollten, sondern auch brutale Attentäter. So kann er davon ablenken, dass es eigentlich er ist, der seit acht Jahren Gewalt predigt und anstachelt. Er hat damals schon auf Wahlveranstaltungen dazu aufgerufen, Zwischenrufer aus dem Raum zu prügeln. Und er hat am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmen lassen, was fünf Tote zur Folge hatte. Sein ungeklärtes Verhältnis zu Recht und Ordnung und zu Gewalt war deshalb bisher sein größter Schwachpunkt. Aber jetzt kann er sich als das Opfer aufspielen, das für seine Anhänger leidet.

Manche Republikaner geben den Demokraten tatsächlich die Schuld an der Eskalation, weil sie Trump als Gefahr dargestellt hätten. Ist da etwas dran?

Das ist ein billiges Ablenkungsmanöver. Auch, weil die Waffenkontrolle im Land von den Republikanern quasi abgeschafft wurde. Fast jeder Amerikaner kann sich heute nach minimalem Hintergrundcheck ein Sturmgewehr kaufen. Das – und das Versagen des Secret Service – sollten jetzt eigentlich die Debatten bestimmen. Stattdessen befeuern die Republikaner weiter die Geschichte von der linken Eliten-Verschwörung gegen ihren Helden.

Könnte die Situation auch Präsident Joe Biden helfen, wieder ein besseres Bild abzugeben? Über seine Aussetzer spricht gerade kaum noch jemand.

Bidens erste Reaktion auf das Attentat war richtig, da passte jedes Wort. Doch er befindet sich auf einer schiefen Ebene, die nur noch nach unten führt. Selbst wenn das Schlaglicht nun gerade weniger auf seiner Senilität und Altersschwäche liegt, wird sich daran nichts ändern. Er findet keinen Weg, diese Dynamik zu brechen. Das könnte nur eine neue Führungsfigur für die Demokraten schaffen – für einen solchen Schritt bleiben Biden vielleicht noch knapp drei Wochen. Wobei es jetzt auch schwer werden dürfte, jemanden zu finden, der mit so schlechten Karten übernehmen will. Es würde wohl am ehesten auf Vizepräsidentin Kamala Harris hinauslaufen, die sich kaum entziehen kann.

Attentate auf Kandidaten und Präsidenten hat es in den USA immer wieder gegeben. Trotzdem wirkt die Stimmung diesmal besonders explosiv.

Wir befinden uns in der parteipolitisch polarisiertesten Phase der amerikanischen Geschichte. Die tobenden Kulturkriege zerreißen Nachbarschaften und Familien. Und der Keil wird nun wohl eher noch tiefer in die amerikanische Öffentlichkeit getrieben, als dass es einen versöhnenden Effekt geben würde.

Wie ist es so weit gekommen?

Diese Polarisierung hat sich seit 50 Jahren ins politische System eingefräst. Die Hintergründe liegen sogar bereits im Aufbrechen der sehr homogenen US-Gesellschaft der 1950er-Jahre. Auch die Klientel von Trump formiert sich im Grunde schon seit den 90er-Jahren. Das sind Leute, die sich angesichts des rapiden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels zurückgelassen fühlen. Trump suggeriert ihnen, sie zurückführen zu können in die vermeintlich heile Welt der 50er.

Trump hat nun angekündigt, das Land einen zu wollen. Kann man das ernst nehmen?

Trumps Situation hat sich in den vergangenen vier Wochen dramatisch verbessert. Schon nach Bidens Debatten-Debakel klang er ganz anders, weil er wusste: Die Demokraten zerlegen sich gerade selbst, da muss er gar nicht viel tun. Dazu kommt nun auch noch der Märtyrerstatus, der unheimlich starke Solidarisierungseffekte auslöst, gerade bei noch wenig entschlossenen Wechselwählern. Trump weiß, dass die Stimmung jetzt zu ihm schwappt.

Was wäre eigentlich passiert, wenn der Schütze getroffen hätte?

Das ist eine der großen kontrahistorischen Fragen. Die republikanische Partei ist heute wie eine große Sekte, die von einem Guru geführt wird. Eine Nummer zwei in der Partei gibt es nicht. Wäre Trump tatsächlich bei dem Attentat ums Leben gekommen, wäre vorstellbar gewesen, dass die Bewegung des Trumpismus ohne ihre Führungsfigur tatsächlich dramatisch geschwächt worden wäre, oder sogar kollabiert. Das heißt auch: Ob nun durch einen Gewehrschuss, einen Herzinfarkt oder nach der nächsten Amtszeit – die Zeit nach Trump wird für die Republikaner strukturell hoch problematisch.

Sehen Sie die politische Stabilität der USA in Gefahr?

Ich mache mir gerade um die politische Stabilität in fast allen großen Demokratien Sorgen – und Amerika ist davon die größte, über die ich mir auch die größten Sorgen mache. Eine zweite Trump-Präsidentschaft wäre sehr viel radikaler und autoritärer als alles, was Amerika in meinen Lebzeiten gesehen hat. Das kann die Grundfesten der Demokratie dort vielleicht nicht aushebeln, aber doch erschüttern. Gleichzeitig fehlt eine handlungsfähige große Nation in Europa, die das abfedern könnte.

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