Pendler-Odyssee: 5 Stunden nach Ebersberg

von Redaktion

Unser Reporter Thomas Gautier musste teilweise zu Fuß nach Hause und dokumentierte das mit einem Selfie. Ein Pendler hatte Glück: Er hatte einen Sessel dabei (Bild rechts). © Fotos: Gautier

Verrückter Bahn-Montag: Am Ostbahnhof fuhr stundenlang kaum noch eine S-Bahn. © ArchivFoto: Andreas Heddergott/Picture Alliance

München – Am Montag hat die Münchner S-Bahn ihren bisher schlimmsten Tag in diesem Jahr hingelegt. Das Ergebnis von gleich vier großen Störungen und Pannen nacheinander. Die Bahn sprach auf Anfrage von einer „ungewöhnlichen Verkettung mehrerer Beeinträchtigungen“. Die führten geradewegs ins Chaos: Zehntausende Pendler kamen nicht heim, unter ihnen auch ich. Gleich vorweg: Ich brauchte ewig – statt sonst 50 Minuten. Das Pannen-Protokoll:

14.05 Uhr: Am S-Bahn-Halt Marienplatz ertönt die erste von bald tausenden Störungsdurchsagen: Wegen eines Stromproblems am Ostbahnhof fahren auf der Stammstrecke keine Züge.

14.30 Uhr: Die S-Bahn meldet die Störung auf ihrem X-Account im Internet: Keine Zugfahrten am Ostbahnhof. Der Grund: Am Leuchtenbergring war eine Oberleitung gerissen. Diese Störung wird erst kurz vor Mitternacht behoben sein.

17 Uhr: Ich verlasse die Redaktion. Die MVGO-App meldet, dass meine S6 nach Ebersberg planmäßig fährt– als einziger Zug zu der Zeit. Ich freue mich. Zu früh.

17.09 Uhr: Die S6 nach Ebersberg fährt am Hauptbahnhof ein. Sie ist sehr voll, aber pünktlich. Das Problem: Sie wird nie in Ebersberg ankommen.

17.22 Uhr: Die S6 fährt am Ostbahnhof ein. Jetzt fährt sie laut Anzeige nur noch bis Haar. Ich steige um in die RB 54 nach Grafing Bahnhof. Überall Menschen. Ich finde einen Stehplatz, sogar mit Anlehngelegenheit. Die werde ich brauchen.

17.31 Uhr: Durchsage vom Lokführer: „Meine Damen und Herren, heute ist Montag. Und das bedeutet bei der Deutschen Bahn auch verrückter Montag. Wir haben jetzt Personen im Gleis. Die Strecke ist gesperrt, wie Sie wissen, das kann zehn Minuten oder auch zwei Stunden dauern.“

17.45 Uhr: Auch in Pasing läuft es nicht nach Plan. Mein Kollege Klaus Rimpel steht am völlig überfüllten Bahnsteig. „Die Zuganzeige kündigt eine S8 nach Herrsching an. Die Leute drängeln in den Zug, drinnen ist zu lesen: S3 nach Maisach. Nach einigem Hin und Her drängeln die meisten wieder raus. Die S3 fährt ab, weiter steht S8 dran, mit dem berühmt-berüchtigten neuen Zeichen, dass in den nächsten zwei Minuten der Zug kommt. Doch auch nach 15 Minuten ist keine S8 da. Plötzlich große Aufregung: Die S8 fährt ab – aber weitgehend leer und von einem anderen, nicht erreichbaren Gleis. Ergebnis: Die Leute sind stinksauer.

18.20 Uhr: Mein Zug steht noch immer, auch andere Züge nach Osten bleiben im Bahnhof. Die Bahnsteige füllen sich, weil auch die S-Bahnen stadteinwärts kaum fahren. Dann eine neue Durchsage: „Liebe Leute, neue Nachrichten, leider keine guten: Die Personen im Gleis wurden mittlerweile gefunden, dafür ist jetzt das Stellwerk in Haar defekt. Wir fahren jetzt nach Holzkirchen.“ Laut Bahn war die Fernsteuerung des Stellwerks kaputt. Ich steige aus.

18.30 Uhr: Ich versuche es mit dem Zug nach Wasserburg. Er fällt aus. Der nächste soll mit 60 Minuten Verspätung kommen, fällt dann auch aus. Wir laufen rüber zu Gleis 13. Dort das gleiche Spiel. Die Anzeige meldet erst: Zug kommt gleich, dann: Zug kommt später. Dann: Zug fällt aus. Wir verstehen nur noch Bahnhof.

18.31 Uhr: Ich treffe einen alten Bekannten. Wir haben viel Gesprächsstoff.

18.55 Uhr: Mein Nachbar ist auch da. Die Gruppe wächst. Wir versuchen es auf Gleis 5, dort soll laut App eine S6 fahren. Ein Soll ist aber kein Muss, dort warten wir noch lange.

19.14 Uhr: Ein Mann am Bahnsteig gegenüber sitzt auf einem großen Bürostuhl, schaut auf sein Handy und wartet. Neid.

19.20 Uhr: Jetzt aber. Die S6 soll bald kommen. Wo, sagt die Ansage nicht. Die Informationen kommen grundsätzlich sehr spärlich. Wie sich gleich zeigen wird.

19.45 Uhr: Wir lassen diese S6 sausen, sie fährt nur bis Trudering.

20.16 Uhr: Die nächste S6 nach Trudering nehmen wir, vielleicht geht es von da weiter. In der S-Bahn sagt der Triebwagenführer durch: In Trudering hat die Bahn einen Schienenersatzverkehr nach Zorneding eingerichtet. Großraumtaxen sollen im Einsatz sein. „Von dort verkehren die S-Bahnen normal.“ Kleiner Tipp an die Bahn: Diese Informationen hätte man schon am Ostbahnhof mit den Passagieren teilen können.

20.30 Uhr: Wir steigen (okay, drängeln) in ein Taxi.

20.37 Uhr: Jetzt ist laut Bahn das Stellwerk in Zorneding ausgefallen – dieses Mal ist laut Bahn dort die Zugnummernmeldeanlage ausgefallen. Der Taxifahrer bekommt fast zeitgleich eine SMS aufs Handy. Er soll uns bis nach Grafing-Bahnhof bringen. Kompliment: Das funktioniert wenigstens.

21.12 Uhr: Wir sind auf der B304 zwischen Kirchseeon und Ebersberg. Ich versuche mithilfe meines Handys herauszufinden, wie wir weiterkommen: Wenn wir per Taxi bis Grafing-Bahnhof fahren, müssen wir von dort mit dem Bus weiter. Doch das würde heißen: Wir wären erst um 22.03 Uhr am Bahnhof, und ich müsste noch heimradeln. Wir steigen deshalb an der Abzweigung nach Ebersberg aus dem Taxi, rennen über die viel befahrene Bundesstraße und laufen die letzten 2,4 Kilometer nach Hause. Geht schneller. Der Sonnenuntergang ist schön. Die Mückenwolken zwischen den Maisfeldern weniger.

21.37 Uhr: Wir passieren das Ortsschild. Um 21.46 Uhr bin ich daheim. 40 Kilometer in 4 Stunden und 46 Minuten. In der Zeit schafft man es per Zug nach Berlin. Oder man läuft einen Marathon.

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