Zuneigung kennt kein Alter: Allerdings fällt es vielen Paaren schwer, über das Thema Sexualität zu reden. Vor allem in langjährigen Partnerschaften. © imago stock
München – Sex in der Partnerschaft, darüber spricht man nicht – oder doch? Ann-Marlene Henning hat damit jedenfalls kein Problem. Die 59-Jährige ist studierte Sexologin und eine der bekanntesten Vertreterinnen ihres Fachs. In ihrer Heimat Dänemark sei der Beruf so gängig wie der des Zahnarztes, erzählt Ann-Marlene Henning im Interview mit unserer Zeitung. Auch Münchner suchen in ihrer Flensburger Praxis Rat. „Psychologen gucken dir in den Kopf, Sexologen in die Hose. Ich tue beides“, sagt Henning ganz unverblümt. Ein Gespräch über sexuelle Aufklärung und das Liebesleben in Partnerschaften.
Frau Henning, sind die Deutschen in puncto Sex zu verklemmt?
Na ja, ich bin absolut keine Verfechterin rigoroser Kategorien. Ich habe sehr viele Deutsche getroffen, die da sehr weit sind und andere weniger. Es hat etwas damit zu tun, wie aufgeklärt wird, wie wichtig Sexualität gesehen wird. Da waren die Skandinavier schon immer lockerer und der Unterschied ist spürbar. Ich habe schon als kleines Mädchen TV-Sendungen gesehen, in denen erklärt wurde, woher die Babys kommen. Die Aufklärung hat in Dänemark deutlich freier und früher stattgefunden. Deutschland war da lange komplett raus.
Als 2012 Ihr Buch „Make Love – ein Aufklärungsbuch für Jugendliche“ auf den Markt kam, gab es scharfen Gegenwind.
Und der weht beim Thema Sexualaufklärung häufig von Rechts. Das Buch wurde „der Behörde gemeldet“. Ich musste damals zur Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien nach Bonn fahren, um mich zu verteidigen. Vor Schulen wurde gegen mich demonstriert. Seitdem besitze ich ein offizielles Schreiben mit Stempel, dass der Titel keineswegs pornografisch ist, sondern im besten Sinne des Gesetzes zur Aufklärung von Jugendlichen beiträgt. Das Buch war dann übrigens für den Jugendbuchpreis nominiert – von der gleichen Behörde.
Was hat denn die große Aufregung verursacht?
Es gibt immer die Befürchtung, dass Kinder durch Aufklärung zu früh mit Sexualität konfrontiert werden. Dabei geht es zunächst gar nicht um Sex, sondern um das Gefühl für den eigenen Körper, das Spüren und das Setzen von Grenzen. Tatsache ist, dass es bei gut aufgeklärten Jugendlichen ein späteres erstes Mal, weniger Teenagerschwangerschaften und weniger Grenzverletzungen gibt.
Ihr Sohn ist mittlerweile 31 Jahre alt. Haben Sie mit ihm das klassische Gespräch von Blumen und Bienen geführt?
Mit 13 oder 14 Jahren will man sich von den Eltern abnabeln – und dann soll man mit ihnen über Sex sprechen? Das geht kaum! Viel entscheidender als dieses eine Gespräch ist das Klima in der Familie. Schickt man ein Kind aus dem Wohnzimmer, wenn im Fernsehen ein nackter Mensch oder eine Sexszene gezeigt wird? Ich habe eine Klientin, der von der Mutter bei Kuss-Szenen im Kino die Augen zugehalten wurden. Als Siebenjährige wurde sie am Arm vom Spiegel weggerissen, in dem sie sich nackt betrachtet hatte, sodass sie eine Woche lang blaue Flecken hatte. Ich habe meinem Sohn gegenüber schon früh die Freude an der Sexualität betont. Er wusste, dass er mit Fragen zu mir kommen kann.
Schön, schlank, erfolgreich: Hat der allgegenwärtige Optimierungswahn in den Sozialen Medien unser Liebesleben verändert?
Definitiv! Mein Sohn bemerkte neulich: Egal wie intelligent oder gutaussehend eine Frau ist – sie fragt mindestens zehnmal am Tag, ob sie schlank genug oder toll genug ist. Schönheitsoperationen boomen, das ist bei manchen fast schon ein Hobby. Das macht etwas mit dem Selbstwertgefühl und dem Sex. In Partnerschaften werden vor allem die Frauen immer unsicherer, aber die Männer ziehen zahlenmäßig nach. Es geht nur noch darum: Wie wirke ich? Wer sich – auch untenrum – okay findet, der ist lockerer beim Sex.
Also gibt es heutzutage mehr sexuelle Freiheiten, aber zeitgleich auch mehr Druck?
Volkmar Sigusch, der 1972 in Frankfurt das Institut für Sexualwissenschaft gründete, hat den Begriff der neo-sexuellen Revolution geprägt, die mit dem Einzug des Internets begründet wird. Die Verbotsmoral aus den 1950er-Jahren hat sich zu einer Art Verhandlungsmoral gewandelt: Gehen wir heute ins Kino oder vögeln wir? Wollen wir mit oder ohne Kondom? Durch die neo-sexuelle Revolution sind gar aus Verboten Gebote geworden: Du musst alles machen, sonst bist du nicht hip.
Ihre Praxis firmiert unter dem Namen „doch-noch“. Oder wie es der Bayer formulieren würde: A bisserl was geht allerweil. Sind Sie in Sachen Liebe eine hoffnungsvolle Optimistin?
Wenn mir jemand sagt, das geht nicht, dann möchte ich erst recht, dass es geht! Nicht zu schnell aufgeben. Sexualität ist nicht angeboren, höchstens der Erregungs- und Orgasmusreflex. Der Rest wird gelernt durch Erfahrungen und deswegen geht mehr, als man vielleicht denkt. Ich habe auch 80-jährige Klienten und Klientinnen, die sich beraten lassen.
Wenden sich mehr Männer oder Frauen an Sie?
Das Verhältnis ist gut ausgeglichen, es gibt da keine Geschlechterunterschiede. Wer ist untreu? Beide. Wer hat keine Lust? Beide.
Und was ist für Paare Ihrer Erfahrung nach das größte Problem?
Ganz klar die Länge der Beziehung. Der Sex wird weniger, automatischer, langweiliger. In Streitsituationen werden dann oft negative Gefühle aus der Kindheit getriggert, die in Millisekunden dazu führen, dass man sich nicht mehr ordentlich benehmen kann.
Und wie sollte man damit umgehen?
Man muss seine eigenen Schwächen erkennen und Verantwortung übernehmen. Es gibt Reifetechniken, die man nutzen kann, um sich selbst besser kennenzulernen und zu sagen, was gesagt werden muss. Dann kann eine neue Form von Intimität entstehen, weil Partner und Partnerin sich wieder begegnen, die wahre Person jeweils ineinander sehen, die sich auch traut, etwas mitzuteilen. Ganz nach meinem Motto: Wag was, sag was. In der Partnerschaft ist ein flexibles Selbst gefragt. Man kann dem Partner zuliebe mal nachgeben, aber dauerhafte Selbstverleugnung aus Sorge vor Spannungen tut keinem gut.
Nach einer schweren Hirn-Operation, bei der drei Aneurysmen behandelt wurden, ging Ihre Ehe in die Brüche und Sie waren mit 39 Jahren wieder Single. Hat Ihr Beruf die Partnersuche erschwert?
Absolut. Manchmal lernte ich einen Mann kennen, wir verabredeten uns – und plötzlich wurde das Date aus fadenscheinigen Gründen wieder abgesagt. Da hatte wohl jemand gegoogelt. Leute mit einem geregelten Beruf kamen mit mir nicht klar. Dann habe ich im Freundeskreis gesagt: Ich suche jemanden, mit langen Haaren (lacht).
Hat funktioniert – Sie sind seit zwölf Jahren mit dem amerikanischen Illustrator Louis Harrison glücklich.
Über eine Freundin hatte ich seinen Kontakt bekommen und ihn angeschrieben. Wir waren vier Monate nur online unterwegs. Ich würde sagen: Wir liebten uns schon, bevor wir uns das erste Mal getroffen haben.