Liebe im Heim – noch immer ein Tabuthema

von Redaktion

Die ältere Generation ist sexuell aktiver als früher, aber oft auch ziemlich leichtsinnig – Expertin fordert Reform der Pflegeausbildung

Auch in Alten- und Pflegeheimen spielt Sexualität eine Rolle. Offen gesprochen wird darüber aber kaum. © Grabowsky/pa

Christine M. hat sich mit 71 noch einmal verliebt. Sehr unerwartet nach einem musikalischen Freizeitworkshop und doch „mit allem Drum und Dran“. Dabei hat die Mutter von zwei erwachsenen Kindern nach der finalen Trennung von ihrem Mann vor 15 Jahren einen solchen zweiten Frühling nicht erwartet. Sexuell aktiv? Das sei sie auch, sagt die Mutter und Großmutter, die gerne anonym bleiben möchte – und räumt ein, sich nicht sonderlich zu schützen. Über sexuell übertragbare Krankheiten werde auch unter ihren ähnlich alten Freunden nicht gesprochen.

Aus einer repräsentativen Befragung von rund 5000 Menschen in Deutschland in den Jahren 2018 und 2019, der sogenannten GeSiD-Studie, geht hervor, dass das Wissen zu sexuell übertragbaren Infektionen – abgesehen von HIV/Aids – insgesamt nicht gut ist. Besonders schlecht sieht es aus bei älteren heterosexuellen Männern, Menschen mit niedrigem Bildungsstand oder mit Migrationshintergrund. Gut informiert sind Personen mit nicht heterosexueller Orientierung.

16 sexuell übertragbare Infektionen listet die ärztliche Fachgesellschaft auf ihrer Seite. Darunter so sprechende Namen wie Affenpocken, Filzläuse und Genitalwarzen, aber auch bekanntere wie HIV, Hepatitis, Tripper, Chlamydien oder Syphilis, an der wohl schon Arthur Schopenhauer, Ludwig van Beethoven und Oscar Wilde litten. In Deutschland wird die Syphilis als einzige der genannten Infektionen regelmäßig erfasst. 2022 gab es hier einen Höchststand. Insgesamt wurden dem Robert-Koch-Institut 8305 Fälle gemeldet. Für das noch nicht abschließend ausgewertete 2023 wird ein weiterer Anstieg auf knapp 8500 erwartet; die Mehrzahl bei den 30- bis 39-Jährigen, aber auch in den älteren Altersgruppen steigt die Rate.

Für den Präsidenten der Gesellschaft für Sexuell übertragbare Infektionen (STI), Norbert Brockmeyer, besteht Handlungsbedarf. „Wir haben ein Problem und es wird stetig größer.“ Der Dermatologe und HIV-Experte verweist auch auf die wachsende Zahl an Antibiotikaresistenzen. Das gefährde die Behandlung sexuell übertragbarer Infektionen. Auch die ältere Generation ist dabei vor Leichtsinn nicht gefeit. „Mein ältester Patient mit einer Syphilis-Infektion war 85 Jahre alt“, sagt Brockmeyer. In Heimen werde Sexualität gänzlich negiert, beklagt er.

Die Älteren sind laut Brockmeyer sexuell aktiver als früher – auch mit wechselnden Partnern. In Anbetracht der alternden Bevölkerung haben Dating-Portale mit Namen wie „Zweisam“ oder „Lebensfreude“ diese Kundengruppe längst erkannt. Mit grau meliertem Haar und zahlreichen Lachfalten werben die Portale um die reifere Generation. Und die sagt nicht Nein: Jeder dritte Internetnutzer zwischen 50 und 64 Jahren gab laut einer Statista-Erhebung von 2023 an, Dating-Portale zu nutzen. Bei den Befragten ab 65 Jahren war es jeder Vierte.

„Wir müssen vom Kindesalter an mehr und besser über Sexualität aufklären und das Tabu Sexualität beenden“, fordert Brockmeyer. Hier seien insbesondere Ärzte gefragt. „Die Leute nehmen es unglaublich dankbar an, wenn sie mit jemandem über Sexualität sprechen können“, sagt Brockmeyer, der für sein Engagement bei der Deutschen Aids-Gesellschaft das Bundesverdienstkreuz erhielt.

Die Caritas weiß um das Thema Sexualität auch in Pflegeeinrichtungen. „Dass pflegebedürftige oder alte Menschen keine sexuellen Bedürfnisse mehr haben, stimmt nicht“, bestätigt die Sprecherin des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland, Anne Langer. Es sei aber noch ein Tabu. In der Pflegeausbildung spiele Sexualität kaum eine Rolle. „Deshalb ist es umso wichtiger, dass das Thema im Pflegealltag vor allem schon mit Auszubildenden und in den Pflegeteams thematisiert wird“, fordert Langer.
ANNA MERTENS

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