Eigenschaften, die Angehörige von Demenzkranken dringend brauchen. © A. Schmidt
Bettsocken hatte die Oma von Stephanie Harke gerne gehäkelt. Mit der Demenz entstanden neue Formen. © Harke
Vereinsgründerin Désirée von Bohlen und Halbach. © A. Schmidt
Ihren an Demenz erkrankten Vater hat Barbara Lange aus Freising im Urlaub auf Teneriffa fotografiert. © Lange
Gut beschützt von ihrem Mann: Maria aus Münster. Fotografiert von Ingrid Hagenhenrich, die damit den ersten Preis beim Fotowettbewerb von Desideria Care gewann. © Hagenhenrich
München – Robert U. erinnert sich noch genau: „Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass meine Frau Alzheimer haben könnte. Nicht nur aufgrund des Alters, sondern weil ich auch nicht wusste, wie die Anfangssymptome sind.“ Erst als er bemerkt, dass Claudia Ereignisse, die sie gemeinsam erlebt haben, ganz anders wiedergibt, bittet er sie, zum Arzt zu gehen. Claudia ist 54, als sie die Diagnose erhält, die ihr Leben aus den Angeln hebt. „Die Begegnung auf Augenhöhe hat sich verschoben. Die Liebe hat sich mehr zu Schutzbedürftigkeit, zu Mitleid gewandelt, von mir. Claudia nimmt das gar nicht so wahr – und das macht vieles extrem schwer.“
Hilfe in dieser schwierigen Situation findet Robert bei „Desideria Care“, einem gemeinnützigen Verein für Angehörige von Menschen mit Demenz. Désirée von Bohlen und Halbach hat den Verein vor sieben Jahren in München gegründet. Ihre Mutter ist die Schwester des schwedischen Königs Carl Gustav. Désirée von Bohlen und Halbach gehört zum Hochadel, könnte Prinzessin genannt werden, ist aber geerdet und unprätentiös.
„Mir klarzumachen, dass ich mitansehen muss, wie ein Mensch vergeht – der Mensch, mit dem ich alt werden wollte“, ist für Robert noch immer „unfassbar dramatisch“, wie er in einem Podcast des Vereins bekennt. Inzwischen hat er zwar Routine in der Betreuung entwickelt, aber die Krankheit raubt immer mehr von dem, was seine Frau einmal ausgemacht hat.
Die Krankheit bedeutet für alle Veränderung
Das Allerkomplizierteste sei, die Krankheit verstehen zu lernen. Zu erkennen, wann es besser sei, den Partner in seiner Welt zu belassen, statt ihn zu korrigieren. „Die Verantwortung wahrzunehmen, ohne dass der andere den Eindruck hat, man wird übergriffig.“ Claudia merke ohnehin ihre Beschränkung, das macht sie zornig. Roberts große Angst ist, dass seine Frau, die für ihre Fröhlichkeit beliebt war, vielleicht im Laufe der Krankheit böse werden könnte – auch gegen ihn. „Das würde mir wahnsinnig wehtun. Aber auch da wird es so sein, dass ich das hinnehmen muss.“
Angehörigen beizustehen, sie in scheinbar unlösbaren Konflikten zu stützen, war ein Impuls, den Désirée von Bohlen und Halbach nach eigenen Schicksalsschlägen hatte. Die heute 60-Jährige, die als junge Frau einen schweren Verkehrsunfall überlebte und deren Tochter an Magersucht erkrankt war, ist selbst „immer unheimlich gut rausgekommen aus diesen Geschichten“. Ihre Haltung ist es, Dinge zu akzeptieren, wie sie sind – und das Beste daraus zu machen. „Nur wenn man Schicksalsschläge akzeptiert, kann man auch nächste Schritte in Angriff nehmen“, sagt sie mit einer entschlossenen Stimme. Als sie um das Leben ihrer Tochter bangt, lernt sie in einer Münchner Klinik eine empathische Therapeutin kennen, die in ihr den Wunsch weckt, selber Menschen beizustehen, deren Leben durch die Krankheit von Angehörigen aus den Fugen gerät.
Alles andere war dann so etwas wie Fügung, wie sie es nennt: Die Malteser baten sie um einen Kontakt zu ihrer Tante Silvia von Schweden, die vor vielen Jahren eine Stiftung für Alzheimer-Patienten ins Leben gerufen hatte (die Mutter von Königin Silvia und ein Bruder waren an Alzheimer erkrankt). Der Kontakt zu den Maltesern war geknüpft, sie fragt, wo sie sich einbringen kann und arbeitet jahrelang ehrenamtlich mit. Die selbstbewusste Frau leitet eine Tagesstätte für Menschen mit Demenz, lässt sich zur Demenzbegleiterin und familientherapeutischen Beraterin ausbilden.
Krankenkassen bezahlen das Coaching bisher nicht
Im Laufe der Zeit entsteht die Idee, die pflegenden Angehörigen von an Demenz erkrankten Menschen zu unterstützen. 2017 gründet die Münchnerin Desideria Care. Inzwischen gibt es über zehn Angestellte und rund 20 freiberufliche Coaches. Anders als die Alzheimer Stiftung, die Anlaufstelle vor allem für Erkrankte ist, konzentriert sich Desideria Care ausschließlich auf Angehörige. Die Coaches helfen den Klienten, das Chaos bei diesem Abschied auf Raten zu sortieren, die eigenen Ängste wahrzunehmen. Hilfe, die allerdings etwas kostet. Eine Einzelstunde (inzwischen meist online) kostet 110 Euro plus Mehrwertsteuer, ein Hausbesuch 150 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer. Eine Information, die zunächst irritiert: Ein gemeinnütziger Verein kassiert fürs Coaching?
Désirée von Bohlen und Halbach erklärt: „Momentan finanzieren wir uns noch zu 80 Prozent über Spenden.“ Aber: Coaching sei leider ein Premium-Produkt. Man müsse ein reflektierter Mensch sein, um zu erkennen: „Was kann ich persönlich ändern, damit sich meine Situation bessert? Ändere ich etwas bei mir, ändert sich auch etwas im Familiensystem.“ Und: Coaching sei keine Therapie. Daher zahlt bisher auch nicht die Krankenkasse.
Viele Menschen aus dem Mittelstand kommen zu Desideria Care. Und da kam der Vereinsgründerin der Gedanke: „Es kann doch nicht sein, dass wir etwa einem Juristen mit Spenden ein Coaching ermöglichen! Das finde ich nicht richtig. Das kann der sich auch selber leisten. Es ist die Frage: Was bin ich mir wert?“ Aber sie will kein Exklusiv-Angebot für Gutbetuchte: Menschen aller Couleur und Finanzkraft sollen Hilfe erhalten. Also wurde ein Fair-Coaching-Topf eingerichtet, in den Paten hineinspenden. Wer sich den vollen Satz eines Coachings nicht leisten kann, zahlt – je nach Möglichkeit – nur 20 oder 30 Euro pro Stunde.
Desideria Care bekommt keine staatlichen Zuschüsse. Nur das Angehörigenseminar und die Online-Demenzsprechstunde werden vom bayerischen Sozialministerium gefördert. Die Geschäftsstelle und alle damit verbundenen Kosten werden über Spenden finanziert. „Mein Traum wäre, dass die Kranken- oder Pflegekassen den Familien ein Anrecht auf fünf Coachings pro Jahr einräumen, wenn die Diagnose da ist.“ Im Schnitt kommen die Klienten fünf- bis sechsmal im Jahr. „Ein pflegender Angehöriger ist nicht krank, er ist belastet. Und wir wollen verhindern, dass er krank wird.“
„Die meisten kommen erst, wenn die Hütte brennt“
Die Coaches gehen auf die Familiendynamik ein: Was macht die Pflege mit dem Angehörigen? Was muss getan werden, damit er nicht untergeht? Desideria Care rät, möglichst schnell ein Netzwerk aufzubauen – mit Ärzten, Nachbarn, Kindern und Freunden. „Aber die meisten kommen erst, wenn die Hütte brennt“, bedauert von Bohlen und Halbach. Eine Demenz offenbare oft Muster, die in den Familien vorhanden sind, und sorge damit für Spannungsverhältnisse. „Familien brechen auseinander, weil man sich nicht einigen kann. Es gibt Missverständnisse. Wir versuchen im Coaching alles, was von den Familienmitgliedern kommt, zu integrieren. Ist ein Limit in der häuslichen Pflege erreicht, begleiten wir unsere Klienten auch in diesem Prozess, um einen guten Weg innerhalb der Familie zu finden.“
Es sind meist Töchter und Schwiegertöchter, berufstätige Frauen, die sich an den Verein wenden. „Sie müssen so viele Bälle in der Luft halten: eigene Familie, Beruf und Pflege“, weiß die Mutter dreier Kinder. Viele Kurse werden daher abends oder am Wochenende angeboten. Hauptzielgruppe sind Frauen zwischen 40 und 65, die ihre Eltern oder Schwiegereltern pflegen: „Pflege“, sagt Désirée von Bohlen und Halbach, „ist weiblich.“
Spendenkonto
Angehörigen Hilfen an die Hand zu geben, mit denen sie ihre an Demenz erkrankten Eltern oder Partner besser pflegen und auch besser für sich selber sorgen können, ist das Ziel des Vereins. Spenden an Desideria Care e.V., IBAN: DE18 7015 0000 1004 7700 77. Sie erhalten eine Spendenbescheinigung fürs Finanzamt. Für 50 Euro im Monat kann man auch dem Freundeskreis beitreten. Weitere Infos: www.desideria.org