Zu viele Wege führen nach Rom

von Redaktion

Nummern statt Namen: Ein Klingelschild im Zentrum Roms. Die Wohnungen hier werden an Touristen vermietet. © P. Alliance

Das Kolosseum ist eines der Wahrzeichen Roms: Chiara Mellucci macht einen Bogen darum. Zu viele Touristen. © Getty Images

Chiara Mellucci in ihrer Wohnung im historischen Viertel Monti, wo auch der Palast von Kaiser Nero liegt. © Anna Dotti

Ein ganz normaler Tag in Rom: Touristenmassen tummeln sich am berühmten barocken Trevi-Brunnen vor dem Palazzo Poli. © Foto: Getty Images

Rom – Ein Geräusch begleitet Chiara Mellucci, ein ständiges Schleifen. So klingen die kleinen Räder auf dem Asphalt, die Rollkoffer der Touristen, die im Zentrum Roms unterwegs sind. Mellucci überholt eine Gruppe, die etwas orientierungslos mitten auf einer Kreuzung stehen bleibt, geht weiter auf dem schmalen Bürgersteig zwischen den Tischreihen der Restaurants und den Türen der Wohnhäuser. Vor fast jeder Tür hängen Zahlenschlosskästchen, in denen zahlende Gäste ihre Wohnungsschlüssel finden, wie oft bei Airbnb.

Vor einem Restaurant macht Mellucci einen großen Bogen um Touristen, die Schlange stehen, um „trippa romana“ zu essen – römische Kutteln. Sie muss aufpassen, nicht angefahren zu werden. Im Herzen der Ewigen Stadt ist der ohnehin chaotische Verkehr gefährlicher als sonst: Neben Autos und Motorrädern streiten E-Bikes, Roller und Segways um den Platz auf der Straße. Hinzu kommen Golfcarts als neues beliebtes Fortbewegungsmittel für Touristentouren.

Es sieht so aus, als würde Ciara Mellucci an einem Hindernislauf teilnehmen. So geht es Mellucci fast immer, wenn sie in ihrem Viertel unterwegs ist. Sie wohnt im Rione Monti, einem historischen Viertel Roms, das an das Kolosseum und das Foro Romano grenzt. Ihr Zuhause ist die Belohnung für den täglichen Slalom. Auch wenn sie sich manchmal fragt: Ist es wirklich ein Segen oder eher ein Fluch, da zu leben?

Römer verlassen das historische Zentrum

Rund 35 Millionen Touristen besuchten im vergangenen Jahr Rom – ein Rekord. Während die Zahl von Jahr zu Jahr steigt, sinkt die Zahl der Einheimischen. Sie werden von explodierenden Mietpreisen und der Verwandlung ihrer Viertel in Selfie-Kulissen vertrieben. Dabei ist das historische Zentrum der Stadt seit 1989 Weltkulturerbe, auch weil es von Römern bewohnt ist. Ohne seine Bewohner bleibt nicht viel mehr als ein Überangebot an Eisdielen, Restaurants und neonbeleuchteten Souvenirläden. Ist es vorbei mit la grande bellezza, der großen Schönheit? Noch nicht: Die Bürger wehren sich. Chiara Mellucci ist eine von ihnen.

Zu Hause sitzt sie am Holztisch im Wohnzimmer, vor sich einen Espresso, hinter sich ein Klavier, das sie gerade zu spielen lernt. Mellucci, 47, erzählt, dass sie südlich von Rom geboren, aber in der Stadt aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Auch studiert hat sie in Rom. Wegen der Arbeit hat sie jahrelang im Ausland gelebt, etwa in Indien, den USA, dem Senegal – sie arbeitet für die FAO, die Welternährungsorganisation der UNO. Seit zwei Jahren ist sie wieder in Rom, wo die FAO ihren Hauptsitz hat.

Die Eltern haben ihr die Wohnung überlassen, sie konnten dort nicht mehr ruhig schlafen wegen des Lärms der Airbnb-Gäste im oberen Stockwerk. Als Erstes habe sie eine Wand eingerissen und das Schlafzimmer verlegt, sagt sie. Ihr Büro liegt eine halbe Stunde Fußweg entfernt, ein Katzensprung für eine Drei-Millionen-Stadt wie Rom. Aber sie meidet den Fußweg, weil sie am Kolosseum vorbeimüsste.

Das weltberühmte Amphitheater ist für Mellucci zum Problem geworden. „Ich schaffe es nicht, mich schon früh morgens unter die Leute da zu mischen“, sagt sie. Damit meint sie die Schwärme von Touristen, Reiseführern, Selfie-Stick-Verkäufern und als Centurionen verkleideten Typen, die sich von früh bis spät rund um das Kolosseum tummeln.

Auf ihrem Smartphone zeigt Mellucci den Verlauf eines WhatsApp-Chats. Nachrichten, die fast alle nach Beschwerden klingen: Touristen, die oben ohne auf der Straße liegen wie im Freibad, die auf die Straße pinkeln. Es gibt Fotos von Müll wie Plastikbechern und Chipstüten, die auf der Straße liegen. Ein Foto zeigt einen Wäscheständer auf dem Gehweg. „Es werden sogar Straßenläden vermietet, die eigentlich als Unterkünfte nicht bewohnbar sind“, sagt Mellucci.

Die Chat-Teilnehmer sind etwa 50 Menschen, die Mitglieder der Nachbarschaftsvereinigung Comitato Rione Monti. Anwälte, Beamte, Rentner, in Rom geboren oder zugezogen, der jüngste ist 30, der älteste 80. Sie haben ein gemeinsames Problem: Übertourismus, vor allem im Zentrum zwischen Kolosseum, Trevi-Brunnen, Pantheon und Vatikan.

Schon im 19. Jahrhundert war Rom ein beliebtes Reiseziel. Literaten wie Goethe oder der englische Dichter Keats besuchten die Ewige Stadt. Aus den Freizeitreisen ist ein Massenphänomen geworden. Egal zu welcher Jahreszeit, in Rom ist immer Hochsaison. Rund 1200 Touristenbusse fahren täglich durch die Straßen. Und es dürften noch mehr werden: Für 2025 hat Papst Franziskus ein Heiliges Jahr ausgerufen.

Vor Kurzem gab Mellucci der regionalen Tagesschau ein Interview. Die Schlüsselkästen vor den Hauseingängen seien auch ein Sicherheitsproblem. Die Leute gingen ein und aus wie in einem Hotel, aber niemand kontrolliere. „Niemand weiß, in wessen Hände die Schlüssel gelangen“, sagt Mellucci. Über die Medien versucht ihr Verein, Druck auf die Stadtverwaltung auszuüben.

Auch das Einkaufen sei problematisch geworden, erzählt sie. Die Preise in den Mini-Märkten im Zentrum sind für Touristen gedacht, höher als sonst. Gleichzeitig schließen die Geschäfte nach und nach, sagt Mellucci: der Schreibwarenladen, der Schuhmacher, der Elektriker. Dabei sind viele Straßen im Herzen Roms genau nach den Händlern benannt, die hier ihr Handwerk betrieben haben: Via de‘ Fornari zum Beispiel, die Straße der Bäcker, oder Via de‘ Sediari, die Straße der Schreiner.

Während die Lebensqualität abnimmt, nimmt die Zahl der Bars, Cafés, Restaurants und Kioske zu. Obwohl das historische Zentrum nur etwa ein Prozent der Stadtfläche ausmacht, befindet sich dort jeder fünfte Gastronomiebetrieb Roms. Der Soziologe Marco D‘Eramo spricht von einer neuen Stufe der Gentrifizierung. D‘Eramo zufolge ist Übertourismus der größte Industriezweig unserer Zeit, der sich ausbreitet, indem er den Rest verdrängt.

Immerhin ist die Zahl der Gastronomiebetriebe im Zentrum von der Stadtverwaltung begrenzt, die Kurzzeitvermietungen etwa über Airbnb sind es nicht: 35 000 solcher Wohnungen sind es offiziell, 12 000 weitere gelten als nicht registriert. Kontrolle und Begrenzung fordern Melluci und ihr Verein zusammen mit anderen Bürgervereinigungen in dem Dachverband mit dem sperrigen Namen „Grorab“ – Gruppo romano regolamentazione affitti brevi; zu Deutsch: Römische Gruppe zur Regelung von Kurzzeitvermietungen.

An einem anderen Vormittag hat Mellucci frei und sitzt in einem Café mit Maria Luisa Mirabile, 73, Soziologieprofessorin im Ruhestand, ebenfalls Mitglied des Comitato und des Grorab. Am Nebentisch sitzen Touristen mit Rollkoffer. Mellucci und Mirabile sprechen über ihr aktuelles Projekt. „Das Manifest“ nennen sie es, ein Dokument des Dachverbands Grorab mit Forderungen an die Stadt. Vor allem geht es um die Einführung einer Verordnung, die Kurzzeitvermietungen im Zentrum einschränkt und die Umwandlung von Kurz- in Langzeitvermietungen durch Steuererleichterungen fördert.

Der Text wird bald fertig sein. Dann können ihn die Römer unterzeichnen. Um die Beteiligung ihrer Mitbürger mache sie sich keine Sorgen, sagt Mellucci. Viele in der Stadt fühlten sich von den Touristenströmen eingeengt und blickten mit Sorge auf 2025. Vor wenigen Wochen fand eine Bürgerveranstaltung mit dem Titel „Gefangen im Heiligen Jahr“ statt.

Ziel ist es, bis zum Herbst tausend Unterschriften zu sammeln, um das Manifest der Stadt vorlegen zu können. Diese verfolgt bisher ein klares Ziel: Möglichst viele Touristen in die Stadt zu locken, als Zeichen des Prestiges und als Einnahmequelle. Der erste Punkt des offiziellen Tourismusplans der Stadt lautet: Attraktivität.

Es sind mehrere Stunden, die Mellucci seit Jahren jede Woche ehrenamtlich in die Vereinsarbeit investiert. Wäre es nicht einfacher, in einen anderen Stadtteil umzuziehen? „Wir wollen nicht umziehen“, sagt sie. „Wir wollen unsere Stadt und ihre Schönheit einfach wieder erleben können.“La grande bellezza.