Der Besorgte: Der renommierte Historiker Heinrich August Winkler sagt, AfD und BSW müssen bekämpft werden.
Der „Alles-für-Deutschland“-Mann: Björn Höcke ruft bei seinen Auftritten gern auch mal Nazi-Parolen. © Jens Schlueter/AFP
Die Putin-Versteherin: Sahra Wagenknecht bei einer Wahlkampfveranstaltung in Sachsen. © Jens Schlueter/AFP
Der schiefe Turm der Ost-Parteien: CDU, AfD und Linkspartei wollen sich gegenseitig übertrumpfen – so wie an diesem Laternenmast am Stadtrand von Döbeln, Sachsen. © Hendrik Schmidt/dpa
München/Berlin – Einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart sieht Deutschland vor den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg am Scheideweg: Prof. Heinrich August Winkler warnt, dass AfD und Wagenknecht-Partei nach erfolgreichen Landtagswahlen auch die Außenpolitik Deutschlands verändern wollen – zur Freude Wladimir Putins.
Eine als erwiesen rechtsextrem eingestufte AfD liegt in den Umfragen zur Landtagswahl in Thüringen stabil bei rund 30 Prozent und wäre damit stärkste Kraft. Ist der Konsens der Nachkriegs-Bundesrepublik, nie wieder den Rechtsextremismus an die Macht zu lassen, in Gefahr?
Die AfD erringt auch im Westen Deutschlands Wahlerfolge, aber im Osten ist sie sehr viel stärker als in der „alten Bundesrepublik“. Das ist vor allem eine Folge der ungleichen Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Westdeutschen hatten nach 1945 das Glück, es mit demokratischen Besatzungsmächten zu tun haben, die Ostdeutschen nicht. Offiziell war die DDR ein „antifaschistischer“ Staat. Aber eine offene, freie gesellschaftliche Diskussion über die tieferen Gründe der Katastrophe der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Menschheitsverbrechen konnte im Osten, anders als im Verlauf der Jahrzehnte in der Bundesrepublik, nicht stattfinden. Deswegen haben in den östlichen Bundesländern viele alte deutschnationale Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie und der Vormacht des Westens, den USA, in stärkerem Maß überlebt als in der „alten Bundesrepublik“. Diese Ressentiments werden von der AfD bewusst geschürt, und dies leider mit beträchtlichem Erfolg.
Die zweite Partei, die laut den Umfragen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mit einem zweistelligen Ergebnis rechnen kann, ist das BSW. Sie sind SPD-Mitglied: Würden Sie Ihrer Partei raten, sich Koalitionen mit der Wagenknecht-Partei auf Landesebene zu öffnen?
Ebenso wie die AfD ist auch das BSW eine zutiefst antiwestliche Partei. Wenn es nach Sahra Wagenknecht geht, müsste die Bundesrepublik ihre Westbindung aufgeben und sich stärker nach Osten ausrichten. Was die politische Nähe zu Putin angeht, unterscheidet sich die Vorsitzende des BSW kaum von Björn Höcke. Über die ostdeutschen Landesregierungen will sie Einfluss auf die Bundespolitik gewinnen. Die Beteiligung an einer Regierung in Erfurt, Dresden oder Potsdam würde sie diesem Ziel näher bringen. Deshalb wäre es falsch und gefährlich, wenn CDU oder SPD mit dieser Partei eine Koalition eingehen würden.
Falls sich AfD und BSW zu Bündnissen zusammenfinden: Gefährdet das die Bundesrepublik?
Ja, deswegen müssen beide Parteien politisch bekämpft werden.
Was bedeuten diese Stimmungen in Ost-Deutschland für die deutsche Hilfe für die Ukraine? Kann ein Kanzler eine derart große Zustimmung zu Parteien, die die Ukraine-Hilfe ablehnen, ignorieren?
Die Antwort ist Nein. Mit den antiwestlichen und prorussischen Stimmungen in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung, einem Relikt aus DDR-Zeiten, nicht zuletzt aus der Ära Gorbatschow, müssen sich die demokratischen Parteien geduldig, entschieden und mit guten Argumenten auseinandersetzen. Sie müssen Illusionen über Putins Politik entgegentreten und die Gefahren deutlich machen, die ein Sieg der russischen Aggression für Deutschland und ganz Europa heraufbeschwören würde.
Andere Ex-Ostblock-Staaten wie Polen entwickelten aus ihren Erfahrungen heraus eine große Skepsis gegenüber Russland. Warum sind derart viele Bürger in den neuen Bundesländern so wohlwollend mit Wladimir Putin?
In Teilen der ostdeutschen Bevölkerung wirkt leider das fatale Gefühl nach, wenn die beiden „Großen“, Deutschland und Russland, einander gut verstehen würden, dann wäre das gut für Europa. Dahinter verbirgt sich eine oft unbewusste Missachtung der Völker des östlichen Mitteleuropas. In Polen erinnert man sich der Teilung des Landes durch Österreich, Preußen und Russland im 18. Jahrhundert und an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Im Baltikum hat man auch nicht vergessen, dass das Deutsche Reich damals der Annexion von Litauen, Lettland und Estland durch die Sowjetunion den Weg geebnet hat. Unter Breschnew ging es der Sowjetunion vor allem darum, ihren Besitzstand zu wahren. Eben darauf konnte Willy Brandts Politik der Ostverträge aufbauen. Putin will im Gegensatz zu Breschnew nicht irgendeinen Status Quo aufrechterhalten. Er ist ein radikaler Revisionist und Imperialist, der so weit wie möglich die Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 rückgängig machen möchte. Diesen fundamentalen Unterschied wollen Deutsche in Ost und West nicht wahrhaben. Dieses Wunschdenken ist gefährlich.
Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind Truppen eines anderen Staates wieder in Russland einmarschiert. Was bedeutet das für Putin, was für die russische Bevölkerung?
Die Ukraine will sich kein russisches Territorium aneignen. Durch den Vorstoß in der russischen Region Kursk versucht sie, ihre Verhandlungsposition zu stärken. Was Putin jetzt erlebt, ist eine Folge seiner Aggression und nichts anderes.
War die Offensive auf russischem Gebiet ein Verzweiflungs-Akt Wolodymyr Selenskyjs – oder ein genialer Schachzug?
Was die Ukraine zurzeit auf russischem Staatsgebiet unternimmt, ist der militärischen Situation angemessen. Es liegt nicht nur in ihrem wohlverstandenen Interesse, sondern auch in dem des Westens, dass sie damit Erfolg hat.
Putin setzt offenbar darauf, dass er den längeren Atem hat und die Unterstützung der Demokratien des Westens für Kiew bröckelt. Wenn man die Wahlkämpfe in den USA, Frankreich oder auch in Deutschland betrachtet, wo immer öfter zu hören ist: „Was geht uns die Ukraine an?“: Geht sein Kalkül auf?
Es gibt in vielen westlichen Ländern Putin-Versteher und Putin-Verteidiger. In Deutschland gehören AfD und BSW zu diesem Lager, in Frankreich Marine Le Pens Rassemblement National und in den USA Trumps Republikaner. Gegen diese Parteien gilt es, Front zu machen. Würden sie sich durchsetzen, wäre das für den Westen fatal. Was zurzeit in Amerika geschieht, ist ermutigend. Der Wiederaufstieg der Demokratischen Partei unter dem Kandidaten-Team Kamala Harris und Tim Walz gibt Anlass zu der Hoffnung, dass das Kalkül Putins, der auf Spaltung und Zersetzung des Westens setzt, nicht aufgeht.