Heim ins Tal: Anton Kriner (re.) beim Abtrieb der Goaßn im vergangenen Jahr. Vor ihm läuft seine Tochter Carolina fesch im pinken Dirndl. © Lukas Barth-Tuttas
Mittenwald – Den Stock in der Hand, den Hut auf dem Kopf. So führt Anton Kriner eine Schar von Ziegen mitten ins Herz von Mittenwald. Der Stab klackert, die Glockerl, die die Ziegen um den Hals tragen, bimmeln. Der Almsommer ist vorbei, die Goaßn und Hirten kommen heim – und das feiert der Ort am Fuße des Karwendels im Kreis Garmisch-Partenkirchen an diesem Samstag.
Anton Kriner nennen hier alle den Pletscher-Toni. Nachnamen kennen die Mittenwalder nur auf dem Papier. Im Ort wird man beim Haus- und Hofnamen gerufen. Der Pletscher-Toni ist Vorsitzender des Ziegen- und Milchschafhaltervereins – und ein Wahl-Goaßerer, könnte man sagen. „Mein Vater hat früher Kühe gehalten, 2014 habe ich mit zwei Goaßn angefangen“, erzählt der 35-Jährige. „Zwischendurch waren es mal 20, heuer habe ich sieben mit auf die Alm geschickt.“
Die 202 Ziegen, die Pletscher bis ins Tal vor sich hertreibt, gehören bis zu 20 Besitzern. Dass sie genossenschaftlich organisiert sind, zeichnet die Viehhalter in Mittenwald aus. Zusammen ziehen ihre Tiere durch das Obere Isartal. Zum Lautersee, Ferchensee, rund um den Kranzberg.
Die Saison startet Mitte Mai auf niederen Weiden. Mitte Juli dürfen die Goaßn zum höchsten Punkt aufsteigen. Auf die Freiweiden rund um die Scheibenalm am Ferchensee auf 1050 Meter. Auch für ihre Halter ist das die schönste Zeit. Bis zum Abtrieb wechseln sie sich dort mit dem Hirtendienst ab. Davor ziehen Almmeister und ihre Helfer mit den Goaßn von Weide zu Weide.
Der Pletscher-Toni schwärmt von seinem siebentägigen Almsommer. Heuer war er in der Woche über Mariä Himmelfahrt bei der Herde auf der Scheibenalm. Dafür hat sich der Kfz-Mechatroniker extra freigenommen. „Das ist ein besonderer Ort. Man ist gar nicht weit von Mittenwald weg, und trotzdem herrscht dort eine Seelenruhe.“ Ein paar einfache Betten, ein Kachelofen, ein Grill – mehr braucht’s nicht für den Geschmack von Freiheit.
Die Almtiere sind auch Landschaftspfleger
Nur die Ziegen-Fans, die vorbeiwandern, bringen Schwung mit. Dass die Goaßn auf Streicheleinheiten warten und ein Grinsen auflegen, wenn man sie krault, hat sich herumgesprochen. Auch die vierjährige Rosalie und die achtjährige Carolina waren zu Gast auf der Scheibenalm. Sie mussten nachschauen, ob es ihrem Papa, dem Pletscher-Toni, da oben auch gut geht. Die zwei Madeln haben ihre Goaßn besucht. Weidi, Rosi und Mira heißen ihre Lieblinge.
Die Goaßerer beschäftigten heuer auch einen Esel. Frederico lebte 15 Jahre auf der Brunnstein-Hütte und darf nun seine Rente mit auf der Alm verbringen. Vielleicht wirkt Frederico abschreckend auf den Wolf. Denn: „Der hat sich heuer gar nicht blicken lassen“, sagt der Pletscher-Toni. Zum Glück.
Die Szenen, von denen der Goaßerer-Chef berichtet, klingen wie aus einem kitschigen Alpenroman. Inklusive Blick ins majestätische Wettersteinmassiv. „Die Woche da oben ist eine der schönsten des Jahres“, sagt er. „Die meisten von uns halten die Tiere ja nur für sich, wir sind keine hauptberuflichen Landwirte.“ Alle aber wissen, wie wichtig es ist, dass Ziegen, Schafe und Kühe auf den Almen weiden. „Beweidung ist Landschaftspflege. Sie erhält die freien Almflächen mit ihrer Artenvielfalt, ohne sie würden Fichten nachkommen und das Land verwildern.“
Gut 1200 Almen gibt es in Bayern. Sie sind entweder im Besitz einzelner Bauern oder werden, wie in Mittenwald, als Genossenschaftsalmen bewirtschaftet. Nach dem Abtrieb dürfen die Kitze, die einjährigen Ziegen, sogenannte Überläufer, und die Mutterziegen auf sogenannte Nachweiden. Nur im Winter geht es in den Stall.
Der Pletscher-Toni züchtet sogenannte Bunte Deutsche Edelziegen. Im Februar kommen vielleicht wieder vier Kitze zur Welt. „Für meine Töchter sind sie Familienmitglieder. Wir schlachten nicht, wir verkaufen die Tiere lieber lebend“, sagt er.
Aufgekranzt wird nur, wenn kein Tier stirbt
Aber noch kreisen seine Gedanken um den Samstag. Sind die Goaßn daheim im Tal, werden sie an ihre Besitzer verteilt – und die zeigen stolz, wie fesch sie nach dem Almsommer sind. Wer mag, tritt mit seiner schönsten zur Prämierung an. Vergangenes Jahr hat Kriner gleich mit drei Ziegen abgesahnt.
Das Spektakel rund um den Almabtrieb verfolgen jedes Jahr tausende Besucher. Mittenwald lädt dreimal ein. Traditionell sind die Goaßn Ende August die Ersten. Dann folgen die Schafe und die Rindviecher. 195 Kühe steigen heuer von ihrer gut 2000 Hektar großen Weidefläche ab. „Zwei sind abgestürzt, zwei an Organversagen gestorben“, berichtet Johann Hörmann, der in Mittenwald Schuster-Hanni heißt und Chef der Weidengenossenschaft ist. „Deshalb wird heuer nicht aufgekranzt.“
So will es der Brauch. Mit opulenten Kränzen und Gestecken aus Almrausch und Latschen werden die Rinder von den Bäuerinnen nur geschmückt, wenn keines der Tiere auf der Alm sein Leben gelassen hat. Die Halter hoffen auf mehr Segen für kommende Saison – und auf prächtig geschmückte Rindviecher in den Straßen Mittenwalds.