INTERVIEW

„Dann kann es für Scholz eng werden“

von Redaktion

Was nach den Ost-Wahlen wichtig ist – und wo die Gefahr für den Kanzler liegt

In Siegerpose verlässt Björn Höcke die Wahlparty der AfD in Erfurt. Aber wer regiert künftig in Thüringen und in Sachsen? Die Grafiken zeigen die möglichen Konstellationen – ohne die AfD. © Foto/Grafiken: dpa

München/Dresden – Hans Vorländer sitzt als Politikwissenschaftler genau dort, wo das Land dieser Tage besonders hinblickt. Unsere Zeitung hat mit dem Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der Technischen Universität in Dresden über die Wahlen in Sachsen und Thüringen gesprochen – und darüber, was aus ihnen folgt.

Herr Professor Vorländer, stärkste Kraft in Thüringen, über 30 Prozent in Sachsen – die AfD kann heute vor Kraft kaum laufen, oder?

So sieht es aus. Das konnte man gestern Abend auch schon im Sächsischen Landtag beobachten, wo ich selbst zugegen war. Die AfD erhebt nun den Anspruch, endlich mitzuregieren.

Wer vorher vielleicht noch annahm, das neue Bündnis Sahra Wagenknecht könnte die AfD schwächen, sieht sich getäuscht.

Man kann sehr gut sehen, dass das BSW eben nicht vorrangig die Stimmen der AfD abzieht, sondern die von vorherigen Nichtwählern, aber auch von der CDU und eigentlich allen Parteien.

In Thüringen hat die Partei zudem über ein Drittel der Stimmen geholt und somit die sogenannte Sperrminorität. Was bedeutet das?

Die AfD kann in Thüringen nun Verfassungsänderungen blockieren, aber auch die Ernennung von Verfassungsrichtern oder die Besetzung von Spitzenpositionen in der Exekutive. Das ist ein erheblicher Terraingewinn für die AfD, weil man auf manchen Feldern nun nicht mehr umhinkommt, mit ihr zu sprechen. Sie kann auch Bündnisse auf Zeit mit Oppositionsparteien schließen und die Regierung vor sich hertreiben. Das war ihr Ziel, und das hat sie erreicht.

Trotz ihrer Stärke wird die AfD in beiden Ländern nicht regieren, weil sie keinen Koalitionspartner findet. Wird hier der Wählerwille missachtet?

Nein. Wenn 30 Prozent die AfD gewählt haben, waren 70 Prozent für andere Parteien. Diese dürfen sich dann natürlich zusammenschließen, um eine AfD-Regierung auszuschließen. Das ist völlig legal und legitim in einer parlamentarischen Demokratie. Und das hat es auch auf Bundesebene schon gegeben – etwa als sich 1976 SPD und FDP gegen die Union zusammengeschlossen haben, die fast die absolute Mehrheit geholt hatte.

Aus praktischer Sicht: Kann man noch gut regieren, wenn sich wie in Thüringen drei oder sogar vier Parteien zusammentun müssen – und trotzdem nicht ganz ohne die AfD können?

Das hängt vom Verhalten der beteiligten Parteien ab. Aber wir wissen, dass es immer schwieriger wird, je mehr Parteien beteiligt sind. Wenn es unterschiedliche Schwerpunkte und nur eine kleine gemeinsame Basis gibt, kann das schnell dysfunktional werden. Das sehen wir in der Ampel-Koalition in Berlin, das war auch in der späten Kenia-Koalition in Sachsen so und bei der rot-rot-grünen Minderheitsregierung in Thüringen. Es wird immer schwieriger, eine vernünftige Regierung zu bilden und funktionsfähig über eine Legislaturperiode im Amt zu halten.

In Thüringen müsste sich die CDU von der Linken tolerieren lassen, was sie sich eigentlich selbst verboten hat. Ein Problem?

Schwierig, aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass die CDU ihren Unvereinbarkeitsbeschluss ausräumt. Zumal in Thüringen unter dem bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow eine sehr realpolitisch ausgelegte Linke zur Verfügung steht.

In Sachsen hat es Michael Kretschmer erneut geschafft, der AfD standzuhalten. Was ist sein Geheimrezept?

Der Amtsbonus. Die Zustimmung zu ihm als Person war relativ hoch. Er hat zudem deutlich gemacht, dass es auf ihn ankommt, wenn man die AfD verhindern will. Das hat offenbar viele Wähler motiviert, ihn und die CDU zu wählen – und nicht grün oder links.

Zum Regieren wird Kretschmer womöglich Wagenknechts BSW und noch einen dritten Partner brauchen. Geht das gut?

Klar ist, dass CDU und SPD in Sachsen koalieren werden. Die zwei werden nun nach weiteren Partnern suchen. Das BSW ist dabei naheliegend, aber man kann auch über die Unterstützung der Linken oder der Grünen und des einen Freien Wählers im Landtag nachdenken, um Mandate unterschiedlicher Gruppierungen zusammenzuführen. Kretschmers Verhandlungssituation ist also nicht schlecht.

Halten Sie Sahra Wagenknecht für eine verlässliche Partnerin?

Sie ist natürlich die Schlüsselfigur im BSW. Interessant wird, wie sie mit ihren Landesverbänden interagiert. Ich habe den Eindruck, dass die dortige Spitzenkandidatin Katja Wolf in Thüringen unbedingt mitregieren will, sonst hätte sie nicht ihr Oberbürgermeisteramt in Eisenach aufgegeben. In Sachsen ist es schwieriger zu beurteilen. Der entscheidende Punkt wird sein, wie weit die Landesverbände in der Lage sind, sich von der autokratisch agierenden Führerin Sahra Wagenknecht zu emanzipieren.

Noch ein Blick nach Berlin: Die FDP wurde pulverisiert, die Grünen halten sich nur in Sachsen noch gerade so über Wasser, und die Kanzlerpartei zeigt sich mit Werten knapp über der Fünf-Prozent-Hürde zufrieden. Hat sich die Ampel aufgegeben?

Die Ampel laviert vor sich hin und weiß nicht, wie sie neue Kraft finden soll. Insofern wird es ein langes Siechtum bis zur Bundestagswahl im Herbst 2025.

Neuwahlen erwarten Sie nicht mehr?

Man muss abwarten, was Ende des Monats bei den Landtagswahlen in Brandenburg passiert. Der dortige SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke hat sich bereits von Bundeskanzler Olaf Scholz distanziert und lässt ihn nicht im Wahlkampf auftreten. Sollte Woidke nun auch noch sein Amt verlieren, würde das die SPD erschüttern. Sie müsste dann wirklich überlegen, wie sie aus diesem Desaster herauskommt. Dann kann es auch für Scholz eng werden.

Der Kanzler könnte zur Debatte stehen?

Ja. Wenn die Verzweiflung riesig ist, gibt es manchmal überraschende Entwicklungen. Ich würde deshalb nichts ausschließen. Allerdings scheint es, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius, der als andere profilierte Figur in der SPD neben Scholz immer wieder genannt wird, gerade in Parteiflügeln, die sich eher dem Pazifismus verschrieben haben, keine große Mehrheit hat. Auch wenn es aufgrund unterschiedlicher Personalvorstellungen daher eher unwahrscheinlich erscheint: Es wäre theoretisch denkbar, dass es nach einer schweren Niederlage in Brandenburg doch noch einen Kanzler-Tausch gibt. Denn direkt aus der Koalition heraus in Neuwahlen zu gehen – möglicherweise nach einer Vertrauensabstimmung im Dezember–, wäre für die SPD mindestens genauso gefährlich. Das gilt auch für die anderen beiden Ampelparteien. Und ob sich diese Situation über den Sommer 2025 hinweg merklich verbessert, darf man zumindest in Zweifel ziehen.

Generalsekretär Kevin Kühnert fordert von seiner SPD nun ein robusteres Auftreten. Wird es also noch mehr Streit geben, wenn die Ampel zusammenbleibt?

Natürlich. Je näher der Wahltag rückt, desto mehr Streit wird es geben. Schon deshalb, weil Ärger auch inszeniert werden muss, um die Unterschiede der Parteien herauszustellen. Und der Selbstfindungsprozess, in dem die SPD steckt, macht es nicht leichter.

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