„Früher haben sich die Fahrgäste bedankt“

von Redaktion

Helmut Binninger in seiner zweiten Heimat. Für den Fotografen simuliert er eine Ansage an die Fahrgäste. © Foto: Markus Götzfried

Weißes Hemd und Krawatte: So kommt Helmut Binninger seit Jahrzehnten zum Dienst. © Foto: Markus Götzfried

München – Helmut Binninger dürfte eine Ausnahmeerscheinung unter den Lokführern sein. Nicht nur, weil er – was selten geworden ist – zum Dienst stets mit weißem Hemd und Krawatte – immer mit DB-Logo – erscheint. Sondern auch weil er eine einzigartige Erfahrung mitbringt. Binninger ist seit fast 44 Jahren, seit November 1980 bei der Bahn.

Seit 1. August 1994 fährt er ausschließlich die Münchner S-Bahn. Alle Linien, täglich neu. Vor dem Gesprächstermin steuerte Binninger, der einer der wenigen Beamten bei der S-Bahn ist (also nicht streiken darf), die S2 nach Petershausen und zurück und dann die S7 nach Wolfratshausen. Die ist wegen der schönen Bergsicht zusammen mit der S6 nach Tutzing auch eine seiner Lieblingsstrecken.

Seine erste Freundin lernte Binninger in der S27 kennen

Binninger fährt aber dahin, wo er eingeteilt wird. Also auch die weniger „schönen“ Strecken. Jeder Tag ist neu, sagt er. Wetter, Technik, Fahrgäste – immer kann es Überraschungen geben. Binninger liebt seinen Beruf. Er hat schöne Dinge erlebt – seine erste Freundin hat er in der damaligen S27 kennengelernt. Ein Amerikaner, der nicht wusste, welche S-Bahn er nehmen sollte, wurde ihm und seiner Ehefrau ein Freund. Und es gab weniger schöne Ereignisse. Ein Suizid, ein schwerer Unfall. Binninger hat es weggesteckt.

Zur Bahn kam Binninger eher zufällig. Er hatte Elektromaschinenbau gelernt, wollte bei einer Firma im schwäbischen Königsbrunn durchstarten. Doch eine Sekretärin gab ihm den Tipp: „Helmut, der Firma geht‘s nicht gut. Such dir was anderes.“ Über eine Stellenanzeige in der Zeitung stieß er dann auf die Bundesbahn. Damals, in den 1980er-Jahren, war es noch so: Wer ein Elektrofach gelernt hatte, kam zu den E-Loks. Metall-Handwerker wurden auf Diesel geschult.

Binninger ging also zur E-Sparte der damaligen Bundesbahn. Eine zweijährige Ausbildung folgte. Bis heute hat er 14 Baureihen gelernt, so viele wie kaum ein anderer Lokführer. Fachleute kennen wohl die Bezeichnungen: Die „11er“, die „94er“, nach der Formgebung der Lok auch das „deutsche Krokodil“ genannt, die „420er“, also die alte Olympia-S-Bahn. Natürlich „die 423er“, also die heutige S-Bahn. Die „424er“, ein Fahrzeug, das die S-Bahn München zur Verstärkung ihrer Flotte aus Hannover geholt hat. „Meine Lieblingslok ist aber die 111er“, sagt Binninger, – eine klassische E-Lok, die bis heute etwa im Werdenfels Doppelstock-Garnituren je nach Fahrtrichtung zieht oder schiebt, und die er früher, vor seiner Zeit bei der S-Bahn, nach Kufstein, Passau oder Ingolstadt fuhr.

Heute wird er im Führerstand oft von Schülerpraktikanten begleitet. Es ist der Ehrgeiz von Binninger, Berufsanfänger zur Bahn zu bringen. Von 60 Azubis, die die S-Bahn München hat, waren 39 bei ihm zum einwöchigen Schnupperpraktikum, rechnet er vor. 140 Praktikanten waren es zuletzt in einem Jahr, das ist Rekord.

Die notorische Unpünktlichkeit der S-Bahn will Helmut Binninger nicht kleinreden. Er führt es neben den Infrastrukturproblemen vor allem auf dichtere Zugfolgen zurück. „Wenn es mehr Verkehr gibt, gibt es auch mehr Probleme.“

Die Leute, sagt er, hätten früher aber mehr Verständnis gehabt. „Früher haben sich die Fahrgäste auch mal bedankt, manchmal hat man sogar eine Tafel Schokolade bekommen.“ Lang vorbei solche Zeiten. Binninger vermisst generell etwas mehr Höflichkeit und Anstand.

Er selber kommt „zum Dienst“ immer mit weißem Hemd und Krawatte – beides mit DB-Logo. Damit ist er fast eine Ausnahmeerscheinung, auch unter den Kollegen. Was ihm fehlt: „Manchmal am moi a Schwätzle“, sagt der gebürtige Schwabe. Die Leute im Zug, erzählt er, seien leider alle nur noch mit sich selbst beschäftigt, schauen in ihr Handy, schotten sich mit Kopfhörern ab, bekommen dadurch nicht einmal mehr die Durchsagen im Zug mit und kommen auch weniger miteinander ins Gespräch – und schon gar nicht mit dem Lokführer, der „mehr oder weniger zur anonymen Person“ geworden ist, wie Binninger beobachtet hat. Da schwingt ein bisschen Pessimismus mit. Dennoch sagt er: „Bis heute bereue ich meine Berufswahl in keiner einzigen Minute.“

Noch 70 Tage, dann ist Helmut Binninger im Ruhestand.

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