„Es kam wie aus heiterem Himmel“

von Redaktion

Heute vor einem Jahr überfielen Hamas-Terroristen Israel und töteten rund 1200 Menschen. Der Angriff hat bei Überlebenden wie Gadi Stahl tiefe Wunden hinterlassen. „Es wird sehr lange dauern, bis wir uns von diesem Trauma erholen“, sagt er.

10. Oktober 2023 in Kfar Aza: Israelische Streitkräfte bergen die Leichen aus einem zerstörten Haus. © Ilia Yefimovich/dpa

Die Gedenkstätte für die Opfer des Nova-Party-Massakers: Zum Jahrestag kommen viele Israelis hierher. © Israel Hadari/dpa

Gadi Stahl, 82, hat den Überfall der Hamas auf seinen Kibbuz überlebt. Er will keine Rache, sondern hofft auf Frieden. © Ilia Yefimovich/dpa

Tel Aviv/Schefajim – Gadi Stahl, 82, hatte am Vorabend bis spät mit Familie und Freunden in einer Hütte in einem Waldstück in der Nähe seines Kibbuz Kfar Aza gefeiert. „Ich bin glücklich und zufrieden schlafen gegangen“, erzählt der deutschstämmige Israeli, der vier Kinder und neun Enkelkinder hat. Am 7. Oktober sei er um sechs Uhr aufgewacht, erzählt Stahl. Er hörte merkwürdigen Lärm. „Später wurde klar: Es war das Pfeifen der Raketen.“ Er sei in den Schutzraum seines Hauses geeilt, in dem er inzwischen allein lebt. „Es kam wie aus heiterem Himmel. Es hatte schon länger keine Raketenangriffe gegeben, keine Eskalation.“

Der Tag sollte zum schlimmsten Massaker an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg werden. Nach neuen Erkenntnissen aus Israels Militärkreisen sollen 6000 Gaza-Einwohner beteiligt gewesen sein, darunter 3800 Mitglieder der Hamas-Eliteeinheit Nuchba. Sie töteten rund 1200 Menschen – Männer, Frauen und Kinder. Und sie verschleppten mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen. Augenzeugen beschrieben schlimmste Gewalt an den Einwohnern der Grenzorte sowie an Besuchern des Nova-Musikfestivals, darunter Verstümmelungen und Vergewaltigungen. Viele der Terroristen dokumentierten ihre Gräueltaten selbst mit GoPro-Kameras und übertrugen die Vorfälle live über soziale Netzwerke.

In Stahls Kibbuz Kfar Aza durchbrachen rund 300 Terroristen einen Sperrzaun und drangen in die Gemeinschaftssiedlung etwa drei Kilometer von der Grenze ein. Sie gingen von Haus zu Haus und mordeten. 64 Einwohner des 1957 gegründeten Kibbuz‘ wurden getötet, 19 in den Gazastreifen verschleppt. Ein Nachbar fand die tote Schwiegertochter von Gadi Stahl erschossen in ihrem Haus. Sein Sohn überlebte, weil er in einer abgelegenen Hütte übernachtet hatte.

Viele Einwohner der Grenzorte waren Friedensaktivisten, die von einer Koexistenz mit den Palästinensern träumten. Stahls Tochter Ziv ist Direktorin der israelischen Menschenrechtsorganisation Jesch Din, die gegen die israelische Besatzung in den Palästinensergebieten ist.

Wut auf Netanjahu

Die Einwohner von Kfar Aza wurden laut Stahl von israelischer Seite nicht vorgewarnt. „Wir waren nicht bereit“, erzählt er. Während des Angriffs habe er den ganzen Tag über mit seinen vier Kindern telefoniert, darunter auch seine in den USA lebende Tochter. Er habe Schüsse gehört, „aber erst später verstanden, dass es Terroristen sind – und keine Armee da ist“. Der 82-Jährige überlebte und wartete. Erst um zwei Uhr morgens seien Soldaten gekommen, um ihn aus dem umkämpften Ort zu geleiten. „Wir hatten das Gefühl, dass wir verraten wurden.“

Stahl ist wütend auf die israelische Regierung. „Die Regierung hat uns erzählt, ihr seid geschützt, wir haben euch eine Mauer gebaut, man kann sie nicht überwinden“, sagt er bitter mit Blick auf die Sperranlage an der Gaza-Grenze. „Und dann sieht man Bilder im Fernsehen, wie man mit einem primitiven Traktor den Zaun einfach niedermähen kann.“ Niemand habe die Angreifer aufgehalten. Die Armee sei nicht da gewesen, weil Truppen vorher ins Westjordanland verlegt worden seien, um dort rechtsextreme Israelis zu schützen. Die Fähigkeiten der Hamas seien unterschätzt worden, sagt er und schimpft erneut auf Benjamin Netanjahu, der nie persönlich Verantwortung übernommen hat.

Trotz des Massakers ist Stahl für eine Annäherung an die Palästinenser. „Man kann keine Lösung finden, ohne zu reden.“ Die Gaza-Offensive findet er schrecklich. „Es sieht aus wie Rache, nicht wie ein Krieg, der die Hamas stoppen soll.“ Vor dem Krieg, erzählt er, habe es im Kibbuz viele Verbindungen mit Einwohnern des Gazastreifens gegeben. „Als wir die Fabrik in Kfar Aza aufgebaut haben, war einer unserer ersten Kunden ein Sandalen-Hersteller in Gaza“, erinnert sich der 82-Jährige. In den 1970er-Jahren sei er allein und ungehindert mit dem Auto durch die ganze Stadt Gaza gefahren. „Ich wurde mit offenen Armen empfangen.“ Spätestens seit dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen 2005 und der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas zwei Jahre später wäre eine solche Fahrt undenkbar gewesen. Den Gazastreifen wiederzuerobern, wäre „eine Katastrophe“, sagt er.

Gadi Stahl will zurückgehen in seinen Kibbuz. Einige Einwohner sind es schon, obwohl immer noch sporadisch Raketen fliegen aus dem Gazastreifen. Die Rückkehr sei auch notwendig, „um unseren Feinden zu zeigen, dass wir uns erholen und wieder aufstehen“, glaubt er. Gadi Stahl hat neun Enkel und Enkelinnen. „Sie sagen, dass sie nicht wissen, ob sie hierbleiben werden. Ich finde es schade.“ Zum 7. Oktober sagt er: „Es wird sehr lange dauern, bis wir uns von diesem Trauma erholen.“

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