Abdullah Masud erzählt, er wünsche sich inzwischen manchmal den Tod. © privat/dpa
Ahmed Mduch im provisorischen und überfüllten Zeltlager in Deir al-Balah. Hier lebt er mit seiner Familie. © privat/dpa
Gaza – Ahmed Mduch geht davon aus, dass er sein Zuhause nur für ein paar Stunden verlassen muss, als Israels Armee ihn drei Tage nach Beginn des Gaza-Kriegs zur Evakuierung auffordert. Das Militär will in der Nähe Gebäude, die der Hamas gehört haben sollen, angreifen, erinnert sich der 45-Jährige. Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen – und der Palästinenser und seine Familie sind noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt.
Nur wenige Stunden nach dem Hamas-Terrorüberfall am 7. Oktober 2023 greift Israels Luftwaffe erste Ziele im Gazastreifen an. Zunächst sind die Kämpfe besonders in der Stadt Gaza heftig. Dort lebten auch Mduch und seine Angehörigen. Es bleibt nicht bei der Flucht aus ihrer Heimatstadt – mehrfach müssen sie erneut fliehen. „Jedes Mal, wenn wir wieder vertrieben werden und an einen anderen Ort gehen müssen, verlieren wir Habseligkeiten, ein Stück unserer Würde und unseres Lebenswillens“, sagt der Vater von vier Kindern.
Inzwischen kampiert die Familie in der Stadt Deir al-Balah im Süden des Gazastreifens in einem weniger als neun Quadratmeter großen Zelt. Eine Toilette, Wasser oder Strom, Schutz vor Hitze oder Regen bietet die Behausung nicht. „Wir fliehen vor dem Tod in die Hölle“, sagt Ahmed Mduch, der früher als Schauspieler gearbeitet hat.
Wie Mduch geht es dem Großteil der Bewohner des Küstengebiets: Seit Beginn des Kriegs sind UN-Angaben zufolge rund 90 Prozent der 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens vertrieben worden, viele mehrfach. Und die Kämpfe im Gazastreifen gehen weiter. Die indirekten Gespräche zwischen Israels Regierung und der Hamas über eine Waffenruhe, bei denen die USA, Katar und Ägypten vermitteln, kommen seit Monaten nicht voran.
Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen bisher mehr als 41 000 Menschen bei Kämpfen im Gazastreifen ums Leben. Die Behörde unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und Bewaffneten. Ihre Angaben lassen sich auch nicht unabhängig verifizieren.
Aber der Tod und die Zerstörung sind nicht zu übersehen. Viele Wohnviertel in dem Palästinensergebiet liegen in Schutt und Asche. Israels Militär wirft der Islamistenorganisation vor, Häuser, Kliniken und Schulen für ihre Terrorzwecke zu nutzen und Anwohner als lebende Schutzschilde zu missbrauchen. Die Hamas hat dies in der Vergangenheit bestritten. Israel geht dagegen davon aus, dass die Gruppe die Zerstörung und viele tote Zivilisten bewusst einkalkuliere, um international Sympathien für sich und zugleich Kritik an Israel zu erreichen.
US-Wissenschaftlern zufolge, die die Kriegsschäden mithilfe von Satellitendaten untersuchen, wurden allein bis zum Juli 2024 rund 59 Prozent aller Gebäude in dem Palästinensergebiet beschädigt oder zerstört – rund 170 000 Gebäude. Der dicht besiedelte Gazastreifen ist etwa 40 Kilometer lang und erstreckt sich über eine Fläche, die nur etwas größer als die von München ist.
Besonders im Norden prägen graue Häuserruinen und Trümmerberge das Bild. Von dort, genauer gesagt aus dem Flüchtlingsviertel Al-Schati westlich der Stadt Gaza, ist Abdullah Masud im Dezember vergangenen Jahres geflüchtet.
Eine Zeit lang seien er und seine Familie in Al-Mawasi, einer „humanitären Zone“ im Süden, untergekommen. Dort reiht sich Zelt an Zelt. Es habe kein Wasser, keinen Strom, keine Medikamente gegeben, sagt der 44-Jährige, der älter aussieht, als er eigentlich ist. Vor allem die Tötung des Hamas-Militärchefs Mohammed Deif im Juli sei ihm in Erinnerung geblieben, erzählt der frühere Bankangestellte. „Ich werde nie das gewaltige Flammenmeer vergessen.“ Während das Feuer gelodert habe, seien Menschen in Panik umhergerannt, Überreste von Leichen hätten herumgelegen.
Überprüfen lassen sich seine Angaben nicht. Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen bei dem massiven Luftangriff 90 Menschen um. Masud, der fünf Kinder hat, habe im Chaos laut nach seinen Familienmitgliedern gerufen. Sie alle hätten überlebt.
Masud und seine Familie zogen schließlich in ein überfülltes Zeltlager im weiter nördlich gelegenen Deir al-Balah. Angesichts der verzweifelten Lage wünsche er sich oftmals den Tod, sagt er. Er habe fast 25 Kilogramm an Körpergewicht verloren. Laut den Hilfsorganisationen bekommen die Menschen vor Ort im Schnitt nur eine Mahlzeit am Tag. Zehntausende Kinder seien unterernährt. Zudem seien nur noch 17 der 36 Krankenhäuser teilweise in Betrieb.
„Wenn wir die durch den Krieg verursachten Schäden zusammenzählen sollten, könnten wir das nicht“, sagt Chalid Al-Frandschi, der ebenfalls aus der Stadt Gaza stammt und nun in Al-Mawasi untergekommen ist. „Ich hoffe, dass dieser Krieg bald aufhört.“ Die Menschen bräuchten endlich Sicherheit – auch, um den Gazastreifen wieder aufzubauen. Dies könnte Experten zufolge Jahrzehnte dauern.
EMAD DRIMLY & CINDY RIECHAU