Welche Rolle spielen sie künftig? Im Bild oben Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un, links Chinas Staatspräsident Xi Jinping mit dem im Mai bei einem Hubschrauberabsturz tödlich verunglückten iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi. © P. Alliance/Imago
Kommt es noch einmal zum Handschlag? West und Ost haben eine neue tiefe Krise. Das Foto von 2011 zeigt Joe Biden, damals noch US-Vizepräsident unter Barack Obama, mit Wladimir Putin in Moskau. © Alexander Zemlianichenko/Picture Alliance
München/Mainz – Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist von einer Zeitenwende die Rede. Was das genau bedeutet, ist aber noch nicht klar. Nähern sich Ost und West bald doch wieder an? Andreas Rödder, Professor für neueste Geschichte an der Universität Mainz und Leiter der Denkfabrik „Republik21. Neue bürgerliche Politik“, ist skeptisch. In seinem gerade erschienenen Buch „Der verlorene Frieden“ spricht Rödder von einem neuen, noch gefährlicheren Ost-West-Konflikt. Ein Gespräch über Fehler in der Denkweise des Westens und die Rolle von AfD und BSW.
Prof. Rödder, lange war der Glaube an eine multipolare Weltordnung die große Mode. Sie rufen nun die Rückkehr des alten Ost-West-Konflikts aus. Worauf gründet das?
Die Rede von der multipolaren Welt war immer von sehr viel multilateralem Wunschdenken geprägt. Außerdem von der Vorstellung eines US-amerikanischen Niedergangs, der nie eingetreten ist. Was wir heute haben, ist ein revisionistischer, imperialer Osten, der die liberale Weltordnung revidieren möchte und den Westen damit unter Druck setzt. Das ist der neue Ost-West-Konflikt, allerdings diffuser und gefährlicher als der erste.
Staaten wie Brasilien oder Südafrika wenden sich China zu. Hat der Westen an Attraktivität verloren?
In der Tat hat der Westen ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und der revisionistische Osten, also China, Russland, Nordkorea und der Iran, ist sehr aktiv darin, globale Allianzen zu schmieden. Das war übrigens im ersten Ost-West-Konflikt sehr ähnlich.
Für manche markierte der Zusammenbruch des Ostblocks 1990 das Ende der Geschichte. Was hat der Westen danach falsch gemacht?
Das Hauptproblem nach 1990 lag darin, dass Russland, China und andere die liberale Ordnung nie akzeptiert, sondern an imperialen und autoritären Ordnungsvorstellungen festgehalten haben. Der Hauptfehler des Westens war, dies nicht zu sehen und stattdessen denselben Fehler zu machen wie vorher die Kommunisten: zu glauben, dass man das Ende der Geschichte kenne und auf dem Weg dorthin nachhelfen müsse. Für die Kommunisten war diese Nachhilfe die Weltrevolution, für den Westen der Demokratieexport, um die liberale Ordnung nicht nur zwischen den Staaten zu bewahren, sondern auch in den Staaten zu verbreiten. Diese Hybris ist dem Westen zum Problem geworden.
Der Ukraine-Krieg ist das erste Ausrufezeichen der neuen Weltordnung. Bestehen wir gerade diesen Charaktertest nicht?
Mit der Zeitenwende ist eine Menge passiert, aber die Unterstützung der Ukraine war insgesamt zu halbherzig. Ich habe den Eindruck, dass die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine ebenso wie der Wille zur Selbstbehauptung des Westens eher wieder zurückgehen. Bestanden hat der Westen diesen Charaktertest noch lange nicht.
Was wäre die Folge?
Am Ende des Ost-West-Konflikts hat Saddam Hussein Kuwait überfallen. Die US-Regierung brachte damals eine internationale Koalition zusammen, um zu verhindern, dass ein aggressiver Potentat ein anderes Land annektiert und damit durchkommt. Wenn Russland die Ukraine besiegen würde, würde der Präzedenzfall, den man 1990 mit Signalwirkung verhindert hat, eintreten. Damit wäre imperialen Mächten Tür und Tor geöffnet. Wir wären im Zustand der internationalen Anarchie.
Viele Deutsche sehen das nicht ein, sondern meinen, die Ukraine koste uns nur Geld. Haben sie die Herausforderungen der neuen Zeit noch nicht begriffen?
Heute die Ukraine, morgen Polen oder Estland und dann vielleicht doch Deutschland? Und selbst wenn nicht: Welche Welt soll das denn sein, in der imperiale Mächte Schwächere überfallen können? Das ist genau die Situation, die wir aus der Welt der dreißiger Jahre und bis 1945 kennen. Wollen wir wirklich dahin zurück? Viele haben die historische Dimension der Ereignisse noch nicht verstanden. Wir sind nicht mehr auf der Insel der Glückseligen und werden es so schnell nicht mehr sein.
Würden sie denn empfehlen, Kiew den Einsatz deutscher Waffen auf russischem Boden zu erlauben?
Bis zur roten Linie einer unbedachten Eskalation ist es richtig, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen, und zwar so, dass sie sich selbst verteidigen kann. Dazu gehört natürlich auch Vorwärtsverteidigung.
Sie sind 2023 als Chef der CDU-Grundwertekommission zurückgetreten, weil Sie sich eine Duldung von CDU-Landesregierungen durch die AfD vorstellen konnten. Jetzt diskutiert Ihre Partei über Bündnisse mit dem BSW. Ist das nicht das noch größere Übel angesichts der Agenda Wagenknechts, Deutschland aus dem Westen herauszulösen?
Ich habe meine damalige Äußerung vor dem Hintergrund eines strategischen Dilemmas der CDU gemacht. Und dieses strategische Dilemma hat sich nun noch verstärkt. Natürlich ist das BSW ein großes Problem, vor allem mit Blick auf die außenpolitischen Positionen. Machen wir uns nichts vor: Das BSW zielt auf die DNA der CDU, die Westbindung, und damit letztlich auch auf den Wesenskern der bundesdeutschen Demokratie. Das nutzt nur Wladimir Putin.
Aber das gilt für die AfD gleichermaßen. Warum sich von ihr dulden lassen?
Ich habe damals gar nicht von der AfD gesprochen, sondern von der Möglichkeit, sich wechselnde Mehrheiten zu suchen. Die CDU muss mit der Situation umgehen, dass Parteien, mit denen sie nicht koalieren will, stark im Parlament vertreten sind. Im Übrigen bin ich bei AfD und BSW gleichermaßen skeptisch, was die außenpolitische Position angeht.
Was wäre Ihr Rat an die CDU im Osten?
Eine selbstbewusste Partei mit einem Führungsanspruch sollte rote Linien definieren und innerhalb dieser Linien gesprächsbereit sein. Das halte ich für sehr viel souveräner als ein Denken in Brandmauern oder Unvereinbarkeitsbeschlüssen. Bevor die CDU aber ihre Seele verkauft, rate ich zu Minderheitsregierungen.
Deutschland ist tief verunsichert und fragt sich, ob der Aufstieg radikaler Kräfte noch gestoppt werden kann. Kann er?
Gegenfrage: Welchen Sinn würde es denn haben, zu sagen, dieser Aufstieg sei nicht zu stoppen? Dann könnten wir Politik gleich einstellen.
Friedrich Merz hat es nicht geschafft, die AfD zu halbieren. Sie glauben trotzdem, dass eine wieder konservativere CDU das Land stabilisieren würde?
Wir haben doch gesehen, dass unter Angela Merkel die eklatante Repräsentationslücke im rechten politischen Spektrum entstanden ist. Sie ist die entscheidende Wunde im politischen System der Bundesrepublik der vergangenen Jahre. Es ist vollkommen richtig, dass die Union die rechte demokratische Mitte voll abdeckt. Träte sie wie eine weitere grüne Partei auf, würde das die Wunde nur vertiefen.
An der Spitze der autoritären Parteien stehen zwei Frauen: Alice Weidel und Sahra Wagenknecht. Welche ist gefährlicher?
Ich würde mich da auf keine Hierarchie einlassen. Innenpolitisch tritt das BSW weniger verächtlich und ressentimentgeladen auf, und in der AfD sind radikalere Positionen anzutreffen. Außenpolitisch sind beide gleichermaßen gefährlich. Jede Russland-freundliche Politik richtet sich gegen das Modell der offenen Gesellschaft. Die Herausforderung der Stunde ist die Selbstbehauptung dieses Modells. Das ist übrigens auch die verbindende Klammer zum ersten Ost-West-Konflikt.
Wie stehen die Chancen, dass wir den zweiten Ost-West-Konflikt gewinnen?
Das ist eine offene Frage, aber es gibt keinen Grund für Fatalismus. Die Demokratie hat immer wieder vor Herausforderungen gestanden, hatte Selbstzweifel und befürchtete, autoritären Systemen unterlegen zu sein. In den 1930er-Jahren hat man zum Beispiel gedacht, das Hitler-Regime sei wesentlich effizienter. Aber Demokratien haben sich mit ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur durchgesetzt. Ich sehe keinen Grund, warum das heute anders sein soll. Man muss es nur wollen, und man muss das Nötige tun.
„Der verlorene Frieden“
Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt. Von Andreas Rödder, Beck-Verlag, 250 Seiten, 26 Euro.