INTERVIEW

„Putins Sieg wäre das größte Welt-Risiko“

von Redaktion

Der künftige Siko-Chef Jens Stoltenberg über die Bedeutung des Ukraine-Kriegs

Ukrainische Soldaten der 71. Jägerbrigade feuern eine Haubitze M101 auf russische Stellungen an der Frontlinie. © dpa

„Wir werden Putin nicht ändern können, aber wir können sein Kalkül verändern“: Jens Stoltenberg beim Redaktionsbesuch in München. Ganz links Verleger Dr. Dirk Ippen, gegenüber die Redakteure Sebastian Arbinger, Georg Anastasiadis, Kathrin Braun und Christian Deutschländer (v.li.). © Marcus Schlaf

Jens Stoltenberg in der Redaktion unserer Zeitung. Der Norweger wird neuer Chef der Sicherheitskonferenz. © Foto: Marcus Schlaf

München – Abschied und Neustart in Rekordzeit: Jens Stoltenberg hört als Nato-Generalsekretär auf und steuert auf die Mission als Chef der Münchner Sicherheitskonferenz zu. Der 65-jährige Norweger absolviert diese Woche eine spektakuläre Serie an Blitzbesuchen: Treffen mit dem Kanzler, Ehrung mit dem Verdienstkreuz beim Bundespräsidenten, feierlicher Zapfenstreich im Fackelschein beim Verteidigungsminister, Antritt beim Ministerpräsidenten – und dazwischen: Redaktionsbesuch bei unserer Zeitung. Wir haben mit Stoltenberg vor allem über Russland und die Ukraine gesprochen – und über das Szenario eines Trump-Sieges in den USA.

Herr Stoltenberg, laut Geheimdienstberichten bereiten sich gerade 3000 nordkoreanische Soldaten in Russland für Kämpfe in der Ukraine vor – Tausende weitere sollen folgen. Wie besorgt sind Sie?

Ein Einsatz nordkoreanischer Kräfte wäre eine ernsthafte Eskalation. Nordkorea hat bereits enorme Mengen an Munition für Russland bereitgestellt. Wir sehen also, wie eng Russland und Nordkorea miteinander verbunden sind. Und wir sehen gleichzeitig, wie abhängig Russland von der Unterstützung anderer autoritärer Regime ist.

Weil Russland selbst zu schwach ist?

Es ist kein Zeichen von Stärke, dass Russland auf Nordkoreas Hilfe angewiesen ist. Und es stellt sich die Frage, was Putin im Gegenzug anbietet: Die Möglichkeit, dass Russland Technologien für Raketenprogramme an Nordkorea liefern könnte, ist besorgniserregend. Das würde auch gegen UN-Resolutionen verstoßen, die Nordkorea den Zugang zu diesen Technologien untersagen. Wir sehen: Sicherheit ist global. Was in Europa passiert, ist wichtig für Asien – und was in Asien passiert, ist wichtig für Europa.

Selenskyj sagt, wir erleben den ersten Schritt zum Dritten Weltkrieg. Hat er Recht?

Wir müssen eine weitere Eskalation verhindern – und das ist auch möglich. Als Russland 2022 die Ukraine angegriffen hat, hat die Nato zwei Ziele formuliert: Das eine ist die Unterstützung der Ukraine. Das andere ist zu verhindern, dass der Konflikt zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato eskaliert. Ich kann nicht mehr als Nato-Chef sprechen, aber ich weiß, dass dies die Politik der Nato-Alliierten bleibt.

Ist jetzt der Zeitpunkt, an dem wir der Ukraine erlauben sollten, unsere Waffen für Angriffe auf russische Gebiete zu nutzen?

Das muss jedes Land für sich entscheiden. Aber wir dürfen nicht vergessen, worum es hier geht: Russland hat ein anderes Land völkerrechtswidrig angegriffen. Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung – und das umfasst auch, militärische Ziele auf dem Territorium des Aggressors anzugreifen.

Also würden Sie Scholz zu einer Freigabe von Taurus ermutigen?

Ich werde mich nicht in innerstaatliche Debatten einmischen.

Eine persönliche Frage: Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie erfuhren, dass Russland die Ukraine angegriffen hat? Was dachten Sie damals?

Ich war schockiert, aber nicht überrascht. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt sehr präzise Informationen und wussten im Grunde seit dem Herbst 2021, dass Russland den Plan hatte, die Ukraine anzugreifen. Ich erinnere mich noch, dass die Münchner Sicherheitskonferenz kurz bevorstand und ich überlegte, nicht dort hinzugehen, weil wir wussten, dass es jederzeit zur Invasion kommen könnte. Wir hatten bereits Vorkehrungen getroffen, um im Falle eines Einmarschs schnell nach Brüssel (ins Nato-Hauptquartier) zurückzukehren.

Was haben Sie getan, um dieses Szenario zu verhindern?

Wir haben viele diplomatischen Anstrengungen unternommen. Wir haben hart daran gearbeitet, Putin davon zu überzeugen, seinen Plan zu ändern. Nur wenige Wochen vor dem Angriff hat sich der Nato-Russland-Rat in Brüssel zu einer Krisensitzung getroffen. Aber es wurde klar, dass Russland sich entschieden hat.

Neuen Berichten zufolge soll Putin tatsächlich mit dem Gedanken gespielt haben, Nuklearwaffen einzusetzen…

Ich kann natürlich nicht im Detail über alle Geheimdienstinformationen reden, die wir hatten. Nur so viel: Wir haben diese gefährliche Rhetorik von russischer Seite sehr ernst genommen.

Als designierter Siko-Chef: Können Sie sich vorstellen, dass Russland irgendwann wieder Gast im Bayerischen Hof sein wird?

Die Konferenz wird erstmals im Jahr 2026 unter meiner Leitung stattfinden – bis dahin ist noch viel Zeit. Allerdings liegt die Stärke dieser Konferenz darin, dass sie nicht nur aus gleichgesinnten Ländern besteht. Es würde nicht viel bringen, nur mit Menschen zu diskutieren, mit denen man sich einig ist.

Sahra Wagenknecht würde am liebsten sofort mit Putin verhandeln und zugleich alle Ukraine-Hilfen streichen. Damit trifft sie bei vielen Menschen in Deutschland einen Nerv. Befürchten Sie, Deutschland könnte ein unzuverlässiger Nato-Partner werden?

In Demokratien müssen wir selbstverständlich die Entscheidungen der Wähler respektieren. Ich bin zuversichtlich, dass Deutschland die Ukraine weiterhin unterstützen wird. Es gibt eine überwältigende Mehrheit im Bundestag für die Unterstützung. Ich bin optimistisch, dass auch das so bleibt. Was mir wichtig ist: Wir alle wollen, dass der Krieg endet. Aber wir dürfen nicht vergessen: Der schnellste Weg, einen Krieg zu beenden, ist es, ihn zu verlieren. Aber das würde der Ukraine keinen Frieden bringen, sondern eine Besatzung. Deshalb müssen wir die Ukraine weiter unterstützen. Wir werden Putin nicht ändern können, aber wir können sein Kalkül verändern.

Hätten wir den Krieg mit mehr Ukraine-Hilfen verhindern können?

Womöglich hätte sogar nur ein Bruchteil der militärischen Hilfe gereicht, die wir seit dem 24. Februar 2022 geleistet haben, um die Invasion zu verhindern. Der Zweck von Abschreckung ist nicht, einen Krieg zu beginnen, sondern ihn zu verhindern. Ich bedaure, dass wir als Nato-Verbündete und demokratische Staaten die Ukraine nicht schon früher besser unterstützt haben.

Es gibt jemanden, der behauptet, den Krieg sogar in nur 24 Stunden beenden zu können – und der sitzt bald vielleicht im Weißen Haus. Glauben Sie, Trump liefert die Ukraine an Putin aus?

Ich hatte das Privileg, mit drei verschiedenen US-Präsidenten zu arbeiten – auch mit Donald Trump, zu dem ich eine gute Arbeitsbeziehung hatte. Ich kann natürlich nicht für den künftigen US-Präsidenten oder die künftige Präsidentin sprechen. Aber ich erwarte, dass die Vereinigten Staaten die Ukraine auch weiterhin unterstützen werden – weil es im Interesse der Vereinigten Staaten ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass Trump die Unterstützung für die Ukraine während seiner Amtszeit sogar verstärkt hat, zum Beispiel durch die Lieferung von Panzerabwehrraketen vom Typ „Javelin“. Währenddessen waren viele andere Nato-Verbündete in der Zeit zwischen 2014 und 2022 eher zurückhaltend.

Sind Sie deshalb nicht so pessimistisch wie viele andere, was eine weitere Trump-Administration angeht? Weil er sich von Putin nicht einschüchtern lässt?

Ich glaube, niemandem hilft es, wenn wir pessimistisch sind. Dann riskieren wir eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Unabhängig davon, wer die US-Wahlen gewinnt: Europa ist in der Verantwortung, sich ernsthaft mit den USA auseinanderzusetzen, in den Dialog zu treten. Nicht nur Trump, sondern alle US-Präsidenten, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, haben die Meinung vertreten, dass Europa mehr in seine Sicherheit investieren muss. Und das ist ein richtiger Punkt. In der unsicheren Welt, in der wir leben, sind wir mit verschiedensten Risiken konfrontiert. Aber ich glaube, das größte Risiko wäre, Putin gewinnen zu lassen. Denn das wäre eine Botschaft an alle autoritären Führer dieser Welt, dass Demokratien schwach und verletzlich sind. Das wäre der Anfang von etwas, das wir nicht wollen: eine Welt, in der Autokraten über demokratische Gesellschaften entscheiden.

Sie haben bei einem Treffen mit Markus Söder gesagt, die Siko gehört nach München. Was ist mit Ihnen – suchen Sie hier schon nach einer Wohnung?

Ich werde nicht nach München ziehen, aber ich freue mich darauf, Bayern und die Region besser kennenzulernen. Als Nato-Chef habe ich jede Münchner Sicherheitskonferenz besucht. Jetzt werden einige Besuche in dieser schönen Stadt hinzukommen. Ich mag die Alpen, allerdings habe ich dort noch nicht viel Zeit verbracht. Meistens war ich zum Skifahren in den norwegischen Bergen, aber jetzt kann ich endlich meinen Horizont erweitern.