INTERVIEW

Bayerns ganze Pflanzenwelt in einem Werk

von Redaktion

Forscher Andreas Fleischmann über das einzigartige Langzeitprojekt „Flora von Bayern“

Ein Klassiker ist der Enzian. 14 Arten sind in Bayern beheimatet – nicht alle davon sind blau, so wie der Kalkglocken-Enzian (Gentiana clusii) auf dem Foto. Er ist die „Wappenblume“ der Bayerischen Botanischen Gesellschaft und wird auch Stängelloser Kalk-Enzian oder Echter Alpenenzian genannt.

Die Silberwurz (Dryas octopetala) ist typisch für die bayerischen Alpen. Ihre Vorkommen entlang der Alpenflüsse sind allerdings bereits stark zurückgegangen. Früher kam die Pflanze aus der Familie der Rosengewächse an der Isar bis München vor. © Fotos: Andreas Fleischmann

Das Brandknabenkraut (Neotinea ustulata) ist eine von 72 Orchideenarten, die wild in Bayern vorkommen. Lieblingslebensraum sind magere Trockenwiesen, es kommt aber auch in lichten Kiefernwäldern, Sandmagerrasen und alpinen Weideflächen bis 2500 Meter vor.

Der Weiße Alpen-Mohn (Papaver sendtneri) kommt nur in den Nordalpen in großen Höhen in Geröllfeldern nahe von Gletschern und Schneefeldern vor. In Bayern findet man ihn nur in den Allgäuer Alpen, im Wetterstein- und Karwendelgebirge und in den Berchtesgadener Alpen.

Das Augsburger Steppengreiskraut, im Fachbegriff Tephroseris integrifolia subsp. vindelicorum, ist ein Endemit Bayerns. Endemit bedeutet, dass diese Pflanzenart weltweit nur an genau einem Ort vorkommt, in diesem Fall auf dem Lechfeld bei Augsburg, nirgends sonst.

Andreas Fleischmann mit 14 Kilogramm Fleißarbeit. Drei Jahrzehnte wurde an „Flora von Bayern“ gearbeitet. © Foto: Marcus Schlaf

München – Flora von Bayern – klingt wie der Name einer Prinzessin, ist aber ein druckfrisches und vor allem einzigartiges Werk über die Pflanzenwelt im Freistaat. Über viele Jahre hinweg haben hunderte Hobby-Botaniker und vier Wissenschaftler historische und aktuelle Daten über Pflanzen gesammelt. Am heutigen Samstag, dem 11. Tag der Bayernflora, wird es in München vorgestellt. Einer der Forscher ist Andreas Fleischmann, Mitarbeiter der Botanischen Staatssammlung und Vorsitzender der Bayerischen Botanischen Gesellschaft. Der 44-Jährige aus Landsberg erklärt im Interview, warum das Werk „Flora von Bayern“ einzigartig ist.

Ihr neues Baby ist 14 Kilo schwer, wie fühlt es sich an, es in der Hand zu halten?

In einer Hand kann man die „Flora von Bayern“ eigentlich gar nicht halten, man braucht zwei dafür. Es ist die Arbeit der letzten drei Jahre und es ist sehr schön, das Werk jetzt gedruckt in den Händen zu halten. Daran haben ja nicht nur die vier Herausgeber gearbeitet – es waren 200 Ehrenamtliche, die über die letzten 30 Jahre Daten erfasst haben. Das ist eine unglaubliche Arbeit, eine unglaubliche Last fällt von uns allen ab. Ich habe sehr viele schlaflose Nächte verbracht und vor allem in der letzten Zeit Tag und Nacht daran gearbeitet. In meiner normalen Arbeitszeit hätte ich das gar nicht alles geschafft.

Erklären Sie uns, was die „Flora von Bayern“ ist?

Das ist ein Buch, in dem alle jemals in Bayern vorkommenden Pflanzenarten dokumentiert sind, der Ist-Zustand der Pflanzenwelt Bayerns sozusagen. Bei den meisten Pflanzen ist sogar eine Verbreitungskarte drin, die zeigt, wo diese in den letzten 200 Jahren gefunden wurden. Wir sehen an den Daten, wie sich das Vorkommen der Arten entwickelt hat, welche Pflanzen sich ausgebreitet haben, welche schon immer da waren, welche neu dazugekommen sind. In dieser Form gab es das noch nie.

Woher haben Sie all die Informationen über die Pflanzen?

Der größte Teil kommt daher, dass seit 1983 mehr als 200 Kartierer in Bayern landauf, landab nach Pflanzen gesucht haben. Jeder hat in seiner Region über viele Jahre geschaut, was bei ihm vor der Haustür wächst. Und das hat er niedergeschrieben. So kommen wir auf 16 Millionen Daten, die wir mit dem Landesamt für Umwelt zusammen ausgewertet haben. Eine Riesenzahl. Das alles haben wir nur geschafft, weil so viele ehrenamtlich mitgemacht haben.

Was nutzt die „Flora von Bayern“?

Wir können zum Beispiel sehen, wo die Hotspots der Biodiversität sind. Oder wenn ein Baugebiet entstehen soll, können Ämter oder Naturschützer nachschauen, was da alles wächst. Es ist auch ein Nachschlagewerk für botanisch Interessierte: Viele Pflanzen sind mit Foto dargestellt, damit man sie wiedererkennen kann. Und natürlich mit Text, der auch erklärt, mit welchen Arten man sie verwechseln kann.

Viele der Bilder in der „Flora von Bayern“ sind von Ihnen. Sie sind selten ohne Kamera unterwegs?

Ich kann da Beruf und Privates nicht trennen. Wenn ich zum Beispiel mit der Familie in den Bergen bin, wird auch ganz automatisch nebenbei fotografiert und dokumentiert. Weil es von manchen Pflanzen keine Fotos gab, bin ich auch ganz gezielt auf einige Gipfel geklettert, um zu fotografieren.

Die Flora ist gedruckt – aber die Arbeit nicht vorbei …

Nein, die ist nie zu Ende. Seit dieses Werk gedruckt ist, wurden schon wieder zwei Pflanzenarten neu für Bayern entdeckt. Man wusste zwar, es gibt die, aber nicht, dass sie in Bayern vorkommen. In der Tirschenreuther Teichpfanne hat ein Teichwirt, der auch Hobbybotaniker ist, zum Beispiel das Wasserdickblatt entdeckt – das wurde seit 170 Jahren nicht mehr in Deutschland gesehen.

Sie haben auch historische Daten verwendet. Woher haben Sie die?

Wir haben zum Beispiel historische Daten aus der botanischen Staatssammlung, dort liegen viele alte Herbar-Belege: Die Pflanzen wurden gepresst, der Fundort dokumentiert und die Information so wie in einer Zeitkapsel konserviert. So macht man das in München schon sehr lange, es gibt 3,2 Millionen Belege. Da sind tolle Sachen dabei: Vor 200 Jahren gab es in München noch ein Edelweiß!

Ein Münchner Edelweiß? Wie gibt es das denn?

Das war ein Alpenschwemmling, der aus den Bergen mit der Isar mitgespült wurde. So kam es, dass vor 200 Jahren am Isarufer bei Großhesselohe ein Edelweiß wuchs. Heute kann gar nichts mehr aus den Alpen nachkommen, weil alles im Sylvensteinspeicher landet und die Isar so verbaut ist. Für München sind 2600 Pflanzen dokumentiert in den letzten 200 Jahren. Ein Viertel davon ist heute ausgestorben. Gleichzeitig ist ein Viertel neu dazugekommen, das sind sogenannte Neophyten, die zum Beispiel aus Gärten verwildern oder jemand mit den Schuhen mitschleppt und so verbreitet. Pflanzen aus Nordamerika zum Beispiel oder das Indische Springkraut aus Asien.

Verändert der Mensch die Pflanzenwelt?

Ein Florenwandel passiert auch natürlicherweise, wird aber massiv verstärkt durch den Menschen. Wir schleppen gebietsfremde Arten ein und diese verdrängen die einheimischen. Arten sterben durch Flächenverbrauch oder durch Landwirtschaft – zumindest durch die intensivierte Bewirtschaftung. Es gibt ja auch Bauern, die bunte Wiesen fördern. Aber wenn eine Wiese zur Gewinnmaximierung siebenmal im Jahr gemäht wird, dann verschwindet die Artenvielfalt, weil viele Pflanzen nicht mehr ausreichend Zeit haben zu blühen und sich zu vermehren.

Warum genau ist das ein Problem?

Die Pflanzen stehen ganz am Anfang der Nahrungskette. Mit den Pflanzen verschwinden die Insekten, mit denen die Vögel und so weiter. Das Insektensterben, über das oft geredet wird, ist ursächlich ein Pflanzensterben, vor allem ein Blumenwiesensterben. Wenn wir keine botanische Artenvielfalt mehr haben, wird es draußen in der Natur sehr leise, weil die summenden Insekten und zwitschernden Vögel einfach nicht mehr da sind.

Es gibt inzwischen viele Blühstreifen an Straßen.

Immerhin ein erster Schritt. Auch viele Landwirte lassen inzwischen Mähstreifen stehen oder nutzen einen Teil nicht ganz so intensiv. Aber die angesäten Blühstreifen sehe ich kritisch: Wenn da nur Sonnenblumen stehen, sieht das zwar schön aus, aber viel wichtiger wäre, dass die heimischen Arten dort wachsen. Unsere Gesellschaft müsste den Ordnungssinn ein wenig drosseln, in Parks und Gärten mal eine Wiese oder einen Randstreifen stehen lassen und nicht alles ordentlich stutzen und mähen. Das wird von vielen als unordentlich empfunden, nach dem Motto: Wie schlampig sieht es denn hier aus?! Aber gerade die junge Generation sieht das zum Glück anders.

Dann erübrigt sich die Frage, wie Sie Schottergärten finden?

Da läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich bin gegen Verbote, aber ich finde, man sollte Anreize für Biodiversität im privaten Garten schaffen. Wenn es nach mir ginge, könnte man für einen artenreichen Garten die Grundsteuer reduzieren. Da gäbe es gleich viel mehr Naturgärten bei uns!

Wie sieht Ihr Garten aus?

Meine Familie und ich haben in Landsberg einen Naturgarten. Dort wachsen viele heimische Wildpflanzen. Außerdem leben hier seltene Wildbienen.

Klingt so, als ob Botaniker Ihr Traumjob ist.

Oh ja. Das ist wie ein Lottogewinn. Pflanzen sind seit meiner Kindheit mein Thema. Ich bin mit einem Naturgarten aufgewachsen, habe als Kind viele Blumensträuße gepflückt, mit meiner Mutter gegärtnert. Mein Vater musste mir als Kind immer „Was blüht denn da?“ vorlesen.

Ihre Lieblingspflanze?

Wir haben in Bayern fast 6000 Pflanzenarten, die 3500 einheimischen finde ich besonders schön. Das indische Springkraut ist auch hübsch, aber das würde ich lieber im Himalaya sehen, wo es eigentlich hingehört. Mein Liebling hier in Bayern ist die Wiesenglockenblume. Die war früher ganz häufig, da waren richtige lila Schleier auf den Wiesen. Früher war das eine Allerweltswiesenart, heute ist sie fast verschwunden. Bis vor 20 Jahren habe ich sie Studenten bei Exkursionen im Nymphenburger Schlosspark gezeigt, aber auch dort ist sie nicht mehr zu finden. Sie ist sehr hübsch und auch wichtig, weil viele Insektenarten von ihr abhängen.

Gibt es auch Pflanzen, die Sie nicht mögen?

Die meisten invasiven Neophyten, weil sie andere Pflanzen verdrängen können. Der Riesenbärenklau zum Beispiel ist ja sogar gefährlich für Menschen. Für unsere heimische Pflanzenwelt aber noch viel mehr: Er hat riesige Blätter, unter denen überhaupt nichts anderes mehr wachsen kann. Auf den Kiesinseln und am Ufer von Loisach und Isar gab es früher viele bunte Pflanzen, heute haben wir dort nur noch einen monotonen Massenbestand an Bärenklau, dem man gar nicht mehr Herr werden kann.

Sind alle eingeschleppten Pflanzen kritisch?

Na ja. Es gibt schon auch bemerkenswerte Konstellationen. Zum Beispiel das Schmalblättrige Greiskraut, das aus Afrika kommt. Darauf wächst als Parasit bei uns manchmal ein Teufelszwirn aus Amerika, die Pflanzen bekämpfen einander. Daran finde ich interessant, dass die sich natürlicherweise nie begegnet wären.

Wie geht es für Sie und das große Werk weiter?

Nach der Flora ist vor der Flora – wir sammeln weiter. Jeder, der eine interessante Pflanze findet, darf sich melden. Die Karten mit den Pflanzenvorkommen sind schon online verfügbar, langfristig wird eine App zur Flora Bayerns wohl das Ziel sein. Das ist für das Gelände praktisch, man kann ja schlecht das Buch mitschleppen. Aber so ein Werk wird wohl in den nächsten 100 Jahren nicht mehr gedruckt werden.

„Flora von Bayern“

Mit der „Flora von Bayern“ hat der Haupt Verlag soeben das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung veröffentlicht. In vier Bänden und auf knapp 3000 Seiten – 14 Kilogramm schwer – werden darin erstmals alle 6000 in Bayern historisch und aktuell nachgewiesenen Pflanzen im Porträt dokumentiert. Bemerkenswerte, seltene oder für Bayern bedeutsame Arten werden mit Farbfotos illustriert. Bayerische Botanische Gesellschaft e.V. (Hrsg.), 158 Euro. ISBN: 978-3-258-08359-9

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