Dieses Kästchen sendet Impulse und hilft Martina Augenstein, ihr seit dem Schlaganfall gelähmtes Bein zu bewegen.
Das freie Laufen will neu gelernt sein: Schritt für Schritt holt sich Martina Augenstein Sicherheit.
Zurück ins Leben: Martina Augenstein (57, re.) trainiert mit Physiotherapeutin Daniela Rüttgers im Therapiezentrum Neuro Thera in München-Pasing, den gelähmten Arm zu mobilisieren. Das Therapiezentrum hat eine Kassenzulassung. © Fotos: Michaela Stache
München – Es war ein warmer Sommersonntag im August 2018. Martina Augenstein, Sprecherin von Lego, war damals 51 Jahre alt und besuchte ihre Eltern in Schwaben. „Da spürte ich plötzlich eine ungewohnte Beklemmung und bat meine Mutter, den Notruf zu wählen“, erinnert sich die Münchnerin. Sie legte sich auf einen Liegestuhl und spürte, dass ihr rechtes Bein taub wurde. „Diese Information war wichtig, so hat die Leitstelle auch gleich einen Notarzt mitgeschickt“, erzählt die heute 57-Jährige vom schlimmsten Tag in ihrem Leben. Dem Tag, der sie völlig aus dem Leben katapultierte, weil eine Hirnblutung einen Schlaganfall auslöste.
In Bayern gibt es nur zwei Zentren für die Nachsorge
Erst zwei Wochen später wurde Martina Augenstein wieder wach. Sie lag im Krankenhaus, und ihre rechte Körperseite war gelähmt. Sie konnte nicht sprechen und sich auch nicht aufsetzen. „Ich musste das Leben wieder lernen“, erzählt sie. „In der Früh-Reha habe ich zum Beispiel gelernt, Zähne zu putzen oder sich vom Bett in den Rollstuhl zu setzen – das war im Prinzip die erste große Hürde“, erzählt Augenstein. „Man fängt wirklich ganz unten an.“ Schrittweise kam die Sprache zurück. „Ich habe gute Fortschritte gemacht. Mein großes Glück war, dass ich nach der Reha auch noch in eine betreute Nachsorgeeinrichtung nach Augsburg konnte“, erzählt sie.
In Bayern gibt es nur zwei neurologische Zentren, die Schlaganfall-Patienten in der Nachsorge stationär betreuen: eines in Bad Tölz, das andere in Augsburg. Hartnäckig übte Martina Augenstein dort das Gehen, trotz halbseitiger Lähmung. „Ich habe damit begonnen, den Rollstuhl selbst zu schieben, und das klappte dann irgendwann“, erzählt sie. Monatelang übte sie mit unterschiedlichen Hilfsmitteln, bis sie wieder frei gehen konnte.
Im ersten Jahr nach einem Schlaganfall ist die sogenannte Neuroplastizität im Gehirn am größten und Fortschritte sind einfacher zu erzielen als danach. Doch seien Schlaganfallpatienten der lebende Beweis dafür, dass man sich in jedem Alter immer noch ein bisschen verbessern und etwas dazulernen kann, sagt Martina Augenstein. Geholfen habe ihr bei ihrem Weg zurück ins Leben auch die Erkenntnis, wie wichtig und positiv Frustration sein kann. „Wenn man das Gefühl hat, jetzt endgültig alles hinschmeißen zu wollen, dann ist das das Signal für das Gehirn, etwas zu verändern“, erklärt Augenstein die Lehre des US-Neurologen Prof. Andrew D. Huberman: „Er sagt, dass Frustration die Quelle des lebenslangen Lernens ist.“ Deshalb ihr Rat an alle Patienten: „Bleiben Sie dran, auch wenn Sie noch so gefrustet sind!“
Zwei Jahre nachdem sie an jenem Sommertag ihre Altbauwohnung verlassen musste, war sie endlich wieder zurück. Ihrem Ziel, dort wieder alleine und selbstständig zu leben, kam sie Schritt für Schritt näher. „Ich bin dankbar und froh, dass eine Ergotherapeutin des Vereins Mutabor mit mir zu Hause das Leben geübt hat: Wie ich einhändig koche und all solche Alltagsdinge, für die ich neue Strategien entwickeln musste.“
Mittlerweile setzt Martina Augenstein neben regelmäßigen Therapieeinheiten in einer für neurologische Patienten spezialisierten therapeutischen Praxis auch auf sogenannte intensive Therapieintervalle: „Damit kann ich, sechs Jahre nach meiner Hirnblutung, immer noch Erfolge erzielen“, sagt sie.
70 Prozent der Patienten wünschen sich mehr Hilfe
„Studien belegen, dass es mit Intensivtherapie gelingt, auch längere Zeit nach dem Schlaganfall noch Fortschritte zu erzielen“, sagt der Pflegewissenschaftler Christian Voigt von der Deutschen Schlaganfall-Hilfe. Es gibt aber nur wenige ambulante Therapiezentren, in denen Physio-, Ergo- und Logotherapeuten gemeinsam behandeln, zum Teil auf Rezept. In München hat das Therapiezentrum Neuro Thera in Pasing eine Kassenzulassung, zudem gibt es in Schwabing die Ergotherapie Laborn.
Bei einem Schlaganfall kommt es häufig zu Teillähmungen der Arme oder Beine, Sehstörungen, Sprachstörungen oder auch Vergesslichkeit sowie Orientierungsproblemen. Ein Großteil der Betroffenen hat auch Jahre nach dem Schlaganfall noch mit den Folgen zu kämpfen. Und viele beklagen eine mangelnde Unterstützung, wie eine Patientenbefragung der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe zeigt, die die Stiftung anlässlich des morgigen Weltschlaganfalltags veröffentlicht. 70 Prozent der rund 1000 Befragten wünschen sich mehr Hilfe, die meisten (51 Prozent) bei den körperlichen Folgen des Schlaganfalls.
Die aktuelle Befragung der Stiftung zeigt klar: Die Schwachstelle bei der Schlaganfallversorgung ist die Nachsorge. Im Notfall sind Betroffene in den deutschlandweit 350 zertifizierten Stroke Units (Schlaganfall-Spezialstationen) zwar gut versorgt, und auch die neurologische Rehabilitation ist sehr leistungsfähig. „Doch muss jeder Patient seine Nachsorge selbst organisieren, man fühlt sich überfordert“, kritisiert Martina Augenstein. Sie rät deshalb allen Betroffenen, sich aktiv Hilfe zu suchen.