Die Inflation der Heiligen

von Redaktion

Heiligsprechungen gab es schon immer, die Päpste der Neuzeit waren aber besonders fleißig

Klaus Unterburger ist Experte für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der LMU München. © cm

Kerzen brennen zu Allerheiligen. Die Katholiken gedenken ihrer Verstorbenen. © epd

Santo Subito (sofort heiligsprechen): Bei der Trauerfeier für Papst Benedikt XVI. forderten Gläubige diese Ehrung. © KNA

Pater Rupert Mayer 1938 im Gefängnis Landsberg. © pa

In Assisi im italienischen Umbrien wurde Carlo Acutis am 10. Oktober 2020 seliggesprochen. © kna

Aufgebahrt in einem Glassarg: Der 2006 an Leukämie gestorbene Carlo Acutis. Seine Hände und sein Gesicht wurden aus Silikon nachgeformt. Der 15-Jährige wird als Seliger des Internets verehrt und soll heiliggesprochen werden. © Foto: KNA

München – Vorhin war er noch da, der Ehering. Jetzt ist er spurlos verschwunden. Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Ein Stoßgebet zum Heiligen Antonius von Padua könnte vielleicht helfen? Die älteren katholischen Leserinnen und Leser dürften Antonius und die anderen Heiligen, die in Krankheit und anderen Nöten zur Seite stehen, noch kennen. Auf ihre Fürsprache haben Menschen über die Jahrhunderte vertraut.

Heilige gibt es in der katholischen Kirche jede Menge. Von Aaron von Auxere bis Papst Zosimus verzeichnet die Kirchengeschichte unzählige fromme Menschen, die für ihren Glauben gestorben sind oder ihr Leben ganz dem Glauben gewidmet haben. Weil es nach der Überzeugung der Kirche darüber hinaus aber noch zahllose weitere Männer und Frauen gibt, die unerkannt ein heiligmäßiges Leben geführt haben, wurde das Fest Allerheiligen eingeführt (siehe Kasten).

Ist Heiligenverehrung, sind Heiligsprechungen im aufgeklärten Wissenschaftszeitalter, in der die Künstliche Intelligenz (KI) so langsam das Ruder zu übernehmen scheint, überhaupt noch zeitgemäß? Klaus Unterburger (52), Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig Maximilians-Universität in München, sieht eine Art „überzeitliche Aktualität“ in den Heiligen. In den Heiligengeschichten steckt nach Überzeugung des Theologen die Hoffnung über ein Leben nach dem Tod. „Alle, die mit Christus verbunden sind, sind auch über den Tod hinaus ……

Klaus Unterburger (52) ist Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München. In Heiligen sieht er eine Art „überzeitliche Aktualität“. In deren Geschichten und Legenden steckten die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. „Alle, die mit Christus vereint sind, sind auch über den Tod hinaus verbunden“, beschreibt der Theologe die Glaubensüberzeugung. In der Verehrung frommer Menschen seien von Anfang an religiöse Bedürfnisse der Bevölkerung aufgegriffen worden.

Der umstrittene Kult um den 15-jährigen Italiener Carlo Acutis

„Es ist nicht so, dass die Heiligenverehrung von oben dekretiert wurde“, sagt Unterburger, „sondern das ist ein tief im Menschen angelegtes Bedürfnis, auch mit Verstorbenen in Kontakt zu sein.“ Das sei bis heute so. „Wir alle haben als sterbliche Menschen Angst vor dem Tod. Dass es Menschen gibt, die so stark im Glauben leben, dass sie als Märtyrer dafür ihr Leben hingeben oder so für andere und für Gott leben, dass sie diese Tugendkraft erreichen, das ist nicht selbstverständlich.“ Wenn der Glaube wahr sei, dann überwinde das „das eigentliche Grundproblem unseres Lebens, nämlich die Sterblichkeit“.

Bei allen veralteten Traditionen in der Heiligenverehrung gebe es diesen Kern, „der Hoffnung für unsere Lebensprobleme gibt“. Heilige seien Menschen, die darauf vertraut haben, dass das Diesseits nicht die entscheidende Dimension des Lebens sei. „Dann muss man nicht verkrampft auf heutige Glücksmaximierung setzen, sondern kann für andere da sein“, sagt Unterburger. Und das könne Menschen Hoffnung machen.

Aktuell sorgt die bevorstehende Heiligsprechung von Carlo Acutis für Schlagzeilen. Dieser italienische Junge, der 2006 in Monza mit erst 15 Jahren an Leukämie starb, wird von bestimmten Kreisen als „Influenzer Gottes“ verehrt. Carlo, der gerne Fußball spielte, den aber auch die Eucharistie faszinierte und der eine Website über eucharistische Wunder angelegt hat, wurde am 10. Oktober 2020 seliggesprochen. Papst Franziskus hat nun entschieden, dass Carlo heiliggesprochen werden soll. Das dafür nötige Wunder: Eine 21-jährige Frau, die nach einem Radlunfall schwere Kopfverletzungen hatte, soll geheilt worden sein, nachdem ihre Mutter an Carlos Grab betete.

Im vergangenen Juli tourte eine Reliquie mit einem Stück des Herzens des Toten durch Deutschland – in München kamen gut 500 Gläubige in die Heilig-Geist-Kirche. Eine aus der Zeit gefallene Verehrung, vor der sich viele mit Gruseln abwenden. Dass Carlo 2019 exhumiert und rekonstruiert wurde und nun wie schlafend in einer Art gläsernem Schneewittchen-Sarg in Assisi liegt, scheint so gar nicht mehr in die moderne Zeit zu passen. Kirchenhistoriker Unterburger windet sich: „Das ist eine Frömmigkeit, die vielleicht nicht jeden anspricht und die man auch nicht unbedingt teilen muss“, sagt er. Er habe da zum Teil ein „ungutes Gefühl“.

Manchmal geht es ziemlich schnell mit dem heilig werden

Neben Gefühlen haben Heiligsprechungen auch ganz profane Seiten. Für kirchliche Prozesse, die oft viele Jahre dauern, müssen alle Dokumente, Schriften, Aufzeichnungen und Briefe geprüft und wenn möglich Zeugen vernommen werden. „Es werden oft historische Kommissionen eingesetzt. Alles muss ins Italienische übersetzt und notariell beglaubigt werden“, berichtet der Kirchenhistoriker. Es gebe ganze Berufsgruppen, die in Rom daran verdienten. Auch beim Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse. „Heiligsprechungen waren, seitdem sich das Verfahren in der Neuzeit etabliert hat, immer sehr teuer.“ In Berichten ist von bis zu 250 000 Euro die Rede. Den Verdacht, man können einen „Heiligen kaufen“, weist Unterburger zurück. „Die Prüfung aber muss erst einmal finanziert werden.“ Verehrung und Wunder reichen alleine also nicht. Die Gutachten, die Übersetzungen muss jemand bezahlen.

Bei dem in Bayern hochverehrten Jesuiten Rupert Mayer, der 1987 seliggesprochen wurde, ist es offenbar nicht das Geld, das eine Heiligsprechung bisher verhindert. Es fehlt ein Wunder. Viele Menschen beten in der Bürgersaalkirche in der Münchner Fußgängerzone an seinem Grab. Unterburger ist überzeugt, dass auch Rupert Mayer einmal zur „Ehre der Altäre“ erhoben wird, wie es in der Kirchensprache heißt. „Am Geld wird es in der Erzdiözese München und Freising jedenfalls nicht scheitern.“

Rasant schnell ging es mit der Selig- und Heiligsprechung von Papst Johannes Paul II.: 2005 gestorben, 2011 seliggesprochen – und nur drei Jahre später heilig. „Ich bin sehr skeptisch, wenn das so schnell geht“, sagt Unterburger. „Theoretisch gibt es den Anspruch: Wenn die Kirche prüft, muss man das ganze Leben untersuchen.“ Bei einem Papst, der so lange im Amt war, wäre das ein unheimlich aufwendiger Prozess gewesen.

Der amtierende Papst könne natürlich das Kirchenrecht für bestimmte Fälle außer Kraft setzen, sagt Unterburger – gibt aber zu bedenken, dass das Pontifikat Johannes Pauls II. in eine Zeit fiel, in der Missbrauchsfälle in Teilen der Welt noch gedeckt wurden. Inwieweit er dafür Verantwortung gehabt habe oder nicht, sei zu fragen. Die persönliche Heiligkeit, so glaube die Kirche Gewissheit zu haben, sei da. „Aber ich bin da etwas skeptisch, ob man das eine vom anderen so trennen kann. Daher war und bin ich nicht glücklich, dass das so schnell ging.“

Wer glaubt, das Kanonisieren, also Heiligsprechen, sei ein Relikt vergangener Jahrhunderte, der täuscht sich. Johannes Paul II. sprach in seiner Amtszeit von 1978 bis 2005 sage und schreibe 1338 Menschen selig und 482 heilig – mehr als all seine Vorgänger zusammen. Sein Nachfolger Benedikt XVI. brachte es bis zu seinem Amtsverzicht im Jahr 2013 auf 45 Heilige. Und der amtierende Papst Franziskus liegt bei rund 900 Heiligen, wobei er im Mai 2013 gleich 800 auf einmal erhob: Er sprach die 800 „Märtyrer von Otranto“ heilig, die 1480 in der apulischen Stadt von osmanischen Eroberern niedergemetzelt wurden. Beschlossen hatte die Massen-Heiligsprechung schon Benedikt XVI., Franziskus hat sie sozusagen geerbt.

Kirchenforscher: Zu viele Heilige sind nicht Sinn der Sache

Bei allem Verständnis dafür, dass es auch in den jungen Kirchen Heilige geben müsse, hält Unterburger diese Entwicklung für inflationär. Heilige, die im Unterschied zu nur regional verehrten Seligen in der ganzen katholischen Welt verehrt werden, sollten einem vertraut sein. Bei diesen Zahlen jedoch sei das kaum möglich. „Ich glaube, dass man insgesamt der Heiligenverehrung damit keinen Gefallen tut.“

Unterburger kennt Menschen, die darauf schwören, dass sie nach der Anrufung des Heiligen Antonius verlorene Dinge wiedergefunden haben. „Darunter auch meine Mutter. Dagegen kann ich schwer argumentieren“, erzählt er mit einem Lächeln. Und Wunder? Am Ende Glaubenssache. „Man würde es sich theologisch zu einfach machen, wenn man sagte, Gott hat eine Schöpfungsordnung geschaffen, die nach den Naturgesetzen funktioniert und ab und zu bessert er nach und greift hier und da ein“, sagt der Theologe. Das würde dem Verhältnis von Gott und Welt nicht gerecht.

Kein Problem hat er damit, wenn bestimmte Ereignisse, die man nicht erklären kann, als Zeichen für Gottes Wirken gedeutet werden können. „Wenn jemand schwerkrank ist und im Wallfahrtsort Lourdes Heilung findet, dann können Skeptiker sagen, was sie wollen: Er ist trotzdem geheilt worden.“

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