Winfried Müllers Urgroßvater Franz Bronowski, fotografiert um das Jahr 1900. © Repros: Marcus Schlaf
Familiengeschichte: Christine Müllers Großmutter und Mutter (2. von rechts). Das Bild datiert aus dem Jahr 1914.
Aus dem Familien-Archiv: das Kaffeekränzchen zur Feier eines 60. Geburtstags. Aufgenommen im Juli 1939. © Repro: Schlaf
Christine und Winfried Müller zeigen alte Aufnahmen aus der Geschichte ihrer Familie. © Foto: Marcus Schlaf
München – Angefangen hat alles mit einem kleinen Notizzettel, auf dem Christine Müllers Mutter nach einer Telefonnummer suchte, um einem Verwandten zum Geburtstag zu gratulieren. Ganz viele Namen standen darauf. Wer sind denn all diese Leute? Die Mutter begann, von der Familiengeschichte zu erzählen. Dann brachte sie einen weiteren Zettel, den sogenannten Ariernachweis aus dem Jahr 1943. Dieser Beleg für die eigene Abstammung war Voraussetzung, damit Christine Müllers Eltern in der Nazi-Zeit heiraten durften. Die vielen Namen und das Gefühl, dass da noch so viel Unbekanntes in der Vergangenheit liegt: Die Neugier von Christine (75) und Winfried Müller (73) war geweckt.
Jetzt sitzen die beiden an ihrem Esstisch, vor ihnen liegen dutzende alte Schwarz-Weiß-Fotos. Bilder von Hochzeitspaaren, von Eltern mit ihren Kindern, von Familienfesten. Sie alle erzählen von vergangenen Zeiten, einige sind über hundert Jahre alt. „In meiner Familie wurde schon immer viel fotografiert“, erzählt Christine Müller. Ein Glücksfall für jeden Familienforscher.
Christines Ahnentafel reicht schon über elf Generationen
Seit der Entdeckung des alten Abstammungs-Nachweises im Jahr 2003 hat sich vor allem Winfried Müller immer weiter in die Ahnenforschung reingefuchst. 2860 Personen, die alle irgendwie mit ihm und seiner Frau verwandt sind, hat er bis jetzt erfasst. Besonders die Ahnentafel von Christine Müller ist lang: Elf Generationen reicht sie zurück, die ersten bekannten Vorfahren kann das Paar am Ende des 16. Jahrhunderts benennen. Einen Teil dieses Stammbaums hat das Paar einmal ausgedruckt: Die Papierrolle war rund fünf Meter lang. Aber: Den beiden geht es nicht nur um die Namen und Daten.
„Die Ahnenforschung ist ein bisschen wie Kriminalistik“, sagt Winfried Müller. „Man lernt, wie die große Geschichte auf Familien wirkt.“ Wie war das Leben der Vorfahren? Was waren die Probleme, mit denen sie zu kämpfen hatten? Und welche Träume hatten sie? „Das Spannende ist die Geschichte hinter den Namen“, findet der 73-Jährige.
Immer wieder stoßen die Müllers auf neue Geheimnisse
Seine Vorfahren stammen aus Oberschlesien. Ende des 19. Jahrhunderts zogen seine Urgroßeltern dann ins Ruhrgebiet, um dort als Bergleute in der Zeche zu arbeiten. Wer seine Familiengeschichte untersucht, der stößt immer auch auf das ein oder andere Geheimnis. Als Winfried Müller die Geburtsurkunde seiner Großmutter entdeckt, steht darauf der Name Kasimira. Er war irritiert. Konnte das wirklich seine Oma sein, die er als kleiner Bub mit dem Namen Katharina kennengelernt hatte? „Bei so etwas muss man weiterbohren, bis man eine Erklärung bekommt“, sagt er. In diesem Fall: „Meine Großmutter hatte mit 29 Jahren beim Amtsgericht durchgesetzt, dass ihr Vorname geändert wird.“
Namensänderungen – gerade bei unehelichen Kindern kamen sie früher häufig vor, wenn die Eltern später doch noch geheiratet hatten – sind eine von vielen Herausforderungen für jeden Ahnenforscher. Hinzu kommt: „Die Namen wurden früher nach Gehör geschrieben“, sagt Winfried Müller. „Es gab immer unterschiedliche Schreibweisen.“ Und: „Wenn Kinder gestorben sind, haben die jüngeren Geschwister oft den gleichen Namen noch einmal bekommen“, ergänzt seine Frau. Die Digitalisierung hat die Forschung zwar etwas erleichtert, inzwischen sind viele Daten aus den Archiven im Internet verfügbar. „Man tauscht sich auch mit anderen Forschern aus“, sagt Winfried Müller, der auch im Bayerischen Landesverein für Familienkunde aktiv ist.
Viele alte Dokumente sind in Sütterlins-Schrift verfasst, in den Kirchenbüchern gibt es viele Einträge in altem Kirchenlatein – da brauchen Ahnenforscher viel Geduld. „Ich schreibe erst einmal jeden Buchstaben ab und übersetze dann mit Wörterbüchern und Tabellen“, erklärt er.
Die Familie seiner Frau stammt aus der Oberpfalz und der Dachauer Gegend. Eine ihrer Großmütter war ein uneheliches Kind. „Meine Urgroßmutter war zum Entbinden in einem Ort an der tschechischen Grenze“, erzählt sie. Die beiden suchten und suchten. Und fanden: erst einmal nichts. „Wir mussten tief in alte Landkarten tauchen“, sagt Winfried. Denn: „Der Ort wurde im Zweiten Weltkrieg plattgemacht.“ Um ein anderes Rätsel zu lösen, half die Jubiläumsschrift der Freiwilligen Feuerwehr eines Dorfes bei Dachau. Dort war der Bericht eines Mesners abgedruckt, der einen Brand im Jahr 1823 beschrieb. „Beim Wiederaufbau tauschten sechs Familien den Platz“, sagt Christine. Die Erklärung dafür, warum im Kirchenbuch plötzlich andere Hausnummern verzeichnet waren.
Auch sie hat durch die Forschung einige Familiengeheimnisse erfahren. Manche sind bedrückend, manche auch ganz amüsant. Da war zum Beispiel dieser Verwandte, den Christine als sehr seriösen, gediegenen Mann kennengelernt hatte. Als junger Mann war er als Handwerker auf der Walz unterwegs und wurde 1916 bei der Polizei plötzlich als vermisst gemeldet. Fälschlicherweise. „Wegen unlauteren Lebenswandel war er 14 Tage in der Justizvollzugsanstalt“, sagt sie. Eine andere Geschichte hat sie besonders berührt. Einer ihrer Onkel war im Zweiten Weltkrieg in Ostpreußen vermisst. „Wir haben herausgefunden, dass es ein Grab in Russland gibt“, sagt sie. Jetzt hat die Familie endlich Gewissheit, was mit ihm passiert ist – dank der Ahnenforschung.
Die Archive
Gleichgesinnte finden Ahnenforscher im Bayerischen Landesverein für Familienkunde (www.blf-online.de). Sie beschäftigen sich vor allem mit Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz und Schwaben. Aktuell werden die Nachlass- und Erbregister, die im Staatsarchiv lagern, digital erfasst. Die Ergebnisse sollen dann online zur Verfügung gestellt werden. Ein weiteres großes Projekt ist die Aktion „Sterbebilder im Wandel der Zeit“: Viele Helfer haben bereits 1,23 Millionen Sterbebilder aus ganz Bayern und den Grenzregionen zu Österreich in eine Datenbank gestellt. Die Fotos sind nur für Mitglieder sichtbar, die Daten aber für jedermann unter https://www.blf-sterbebilderprojekt.de.