„Amputiert jetzt, damit endlich Ruhe ist“

von Redaktion

Folgen der Sepsis: Nicht nur die Unterschenkel, auch alle oberen Fingerglieder mussten amputiert werden. © Götzfried

Wiedersehen: Julia Schiedermaier mit ihren Physiotherapeuten Tilo Krinnemann (li.) und Sven Freund. © Markus Götzfried

26. Februar 2019: Julia wird daheim vom Rettungshubschrauber abgeholt. Am Zaun steht völlig ratlos ihr Mann. © privat

Auf der Intensivstation in Neuperlach liegt Julia Schiedermaier 18 Tage im künstlichen Koma. © privat

Ein Foto mit starkem Symbolcharakter: Ihre roten Lieblingsschuhe kann Julia mit den Prothesen nie mehr tragen. Aber sie stehen noch heute in ihrem Schrank. © Raimund Verspohl

Aying – Aus dem Seitenfenster des Rettungshubschraubers versucht Julia Schiedermaier (45) noch, ihrer hilflos am Zaun stehenden Familie aufmunternd zuzuwinken. Zu diesem Zeitpunkt ist schon nicht mehr sicher, ob sie diesen Tag überhaupt überlebt. Sie überlebt. Aber eine Sepsis (Blutvergiftung) mit multiplem Organversagen kostet sie beide Füße und alle zehn vorderen Fingerglieder. Der Auslöser: eine Grippe.

Heute leistet Julia Schiedermaier aktiv Aufklärungsarbeit zu dieser tückischen Komplikation, die in Deutschland jährlich 500 000 Menschen trifft. 140 000 davon sterben. Unterstützt wird sie von ihrer Ärztin, der Privatdozentin Dr. Ines Kaufmann. Kaufmann ist leitende Oberärztin der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der München Klinik Neuperlach.

Eine Sepsis ist eine lebensbedrohliche Reaktion des Körpers auf eine Infektion. Sie kann aus einer entzündeten Wunde, einer schweren Erkältung oder einem grippalen Infekt, auch einer Blasen- oder Lungenentzündung oder nach einer Operation entstehen. Bei einer Sepsis ist das Immunsystem nicht mehr in der Lage, solche Infektionen in Schach zu halten. Sie rechtzeitig zu erkennen, ist die einzige Rettung. Denn die Erreger dringen in den Blutkreislauf ein. Das körpereigene Abwehrsystem startet eine fatale Überreaktion, bei der auch die Organe geschädigt werden. Am Ende stehen ein septischer Schock und ein Multiorganversagen.

Kurz nach der Landung wird sie ins künstliche Koma versetzt

Schiedermaiers schwerer Kampf beginnt im Februar 2019 mit einer Influenza. „Während einer Familienfeier bekam ich Kopfschmerzen und Fieber und ging früh ins Bett“, erzählt sie. In den folgenden Tagen verschlimmern sich die Symptome. Sie bekommt Bauchschmerzen und rechts ein seltsames Seitenstechen. „Ich dachte, das käme vom Husten.“ Tatsächlich ist es eine Brustfellentzündung, die gerade unbemerkt außer Kontrolle gerät.

Am Morgen des 26. Februar eskaliert es: „Das war nicht mehr normal. Ich bekam kaum Luft und fühlte mich so krank und schwach wie nie zuvor in meinem Leben.“ Die Hausärztin erkennt den Ernst der Lage, ruft den Notarzt. Der verständigt die Luftrettung: Verdacht auf akute Sepsis. Ein Transport über Land kostet zu viel Zeit. Eine von Julias letzten Erinnerungen ist der Flug über die Wälder ihrer Heimat um Großhelfendorf bei Aying (Kreis München). Kurz nach der Landung in Neuperlach wird sie ins künstliche Koma versetzt. Timeout – für fast drei Wochen.

CT-Bilder und Laborwerte zeigen das gefährliche Ausmaß der Sepsis. Bakterien (Streptokokken) haben bereits ihre Lunge befallen. In ihrem Brustkorb hat sich eine riesige, 1,5 Liter umfassende Eiteransammlung gebildet. „Der Blutdruck war kaum noch messbar, mehrere wichtige Laborwerte befanden sich komplett außerhalb der Norm – klare Anzeichen eines beginnenden Leber- und Nierenversagens“, sagt Dr. Ines Kaufmann, die ihre Patientin zunächst gar nicht erkennt. Die beiden Frauen leben im selben Ort, ihre Familien und die Kinder kennen sich gut. „Eine Sepsis verändert die Hautfarbe und lässt das Gesicht stark anschwellen.“

Julia wird mit Höchstdosen verschiedener Antibiotika behandelt: „Streptokokken reagieren rasch auf Antibiotika“, sagt Kaufmann. Doch es gibt auch eine Kehrseite: „Wenn Streptokokken zerfallen, setzen sie Toxine frei, die die ohnehin schon schwer beeinträchtigte Durchblutung der äußeren, nicht überlebenswichtigen Körperregionen wie Füße und Hände angreifen.“

In Julias Fall mit verheerenden Folgen. Ihre Hände und Füße und Teile des Unterschenkels verfärben sich schwarz, die Haut stirbt ab. Bald ist klar, dass die Füße und Teile der Waden sowie alle zehn vorderen Fingerglieder nicht mehr zu retten sind. Mangels einer Patientenverfügung führt Kaufmann lange, bedrückende Gespräche mit der Familie, ob eine weitere Behandlung überhaupt in Julias Sinne sei.

Nach 18 Tagen wird Julia aus dem künstlichen Koma geweckt. Es folgen Wochen und Monate, die sie nur mit der Liebe und Fürsorge ihrer Familie, der Ärzte, Schwestern und Physiotherapeuten – und einer ordentlichen Portion schwarzen Humors übersteht. „Nur zwei Minuten auf der Bettkante zu sitzen, war schon die Hölle. Es gab Tage, an denen ich einfach nicht mehr konnte, – glücklicherweise auch nicht die Knöpfe drücken an all den Geräten neben meinem Bett.“

Nach den Amputationen muss Julia Schiedermaier alles neu lernen

Für mehrere komplexe plastisch-rekonstruktive chirurgische Eingriffe wird Julia in die Abteilung für Schwerbrandverletzte in der München Klinik Bogenhausen und später wegen einer fortschreitenden Knochenentzündung ihrer Beine in die Unfallklinik Murnau verlegt. Im Juni 2020 trifft Julia eine klare Entscheidung: „Ich bat die Ärzte: Hört auf. Ich hatte mal 1,10 Meter lange Beine. Auf fünf Zentimeter mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an. Amputiert jetzt, damit endlich Ruhe ist.“

So beginnt Julias langer schmerzhafter Rückweg ins Leben: Sie lernt, auf Prothesen zu laufen, zu greifen, Kartoffeln zu schälen, die Bluse wieder auf- und zuknöpfen. Ihren Führerschein muss sie wegen der Prothesen komplett neu machen. Ein Meilenstein auf ihrem Weg. „Diese totale Abhängigkeit für kleinste Wege hatte mir so zugesetzt.“

Heute hat Julia ihr Leben wieder im Griff. Die Familie lebt mittlerweile in ihrem neuen, barrierefreien Haus. Die Diplom-Pädagogin arbeitet wieder, geht mit der Familie auf Reisen in die ganze Welt, wandert in den Allgäuer Bergen, entspannt sich beim Yoga. Mittlerweile ist sie eine gefragte Referentin auf großen Ärztekongressen und bietet auf ihrer Coaching-Seite (www.juliascheidermaier.de) für Frauen und Mütter auch Leidensgefährten ihre Hilfe an.

Für eine bessere Aufklärung engagiert sich auch Dr. Ines Kaufmann. „In der Notfallmedizin ist das schnelle Erkennen einer Sepsis mittlerweile sehr präsent – ebenso wie bei vielen Hausärzten, die oft die erste Anlaufstelle sind.“ Weniger präsent ist – ähnlich wie beim Post-Covid-Syndrom – die Erkenntnis, dass auch Patienten mit weit weniger dramatischen Sepsis-Folgen noch Jahre später mit massiven physischen und psychischen Langzeitfolgen kämpfen. Kaufmann: „Nicht nur die Bekämpfung einzelner Symptome, sondern der gesamte Kontext zur überstandenen Sepsis ist für diese Menschen wichtig. Für sie gibt es leider noch viel zu wenige Anlaufstellen.“

Hilfe für Betroffene

Laut Zahlen der Sepsis-Stiftung sterben jedes Jahr 140 000 Deutsche an einer Sepsis, wer überlebt, leidet oft an Langzeitfolgen wie chronische Müdigkeit, Muskelschwäche, Konzentrationsschwäche, Gedächtnisproblemen, Schlafstörungen, Angstzuständen, Depressionen und organischen Folgeschäden an Herz, Lunge, Leber und Nieren. Betroffene sind oft auch anfälliger für Infektionen. Unter www.sepsis-stiftung.de finden Patienten und Angehörige unter anderem eine Sepsis-Checkliste sowie Ansprechpartner. Die Sepsis-Stiftung vermittelt Kontakte zu Gutachtern, Traumatherapeuten, Reha-Kliniken, Long-Sepsis-Ambulanzen, Schlichtungsstellen, Selbsthilfegruppen. E-Mail:
beratung@sepsis-stiftung.de
Beratung: 0800 / 737 74 79

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