Abgang und Abrechnung

von Redaktion

Fröhlicher Auftritt nach dem Ampel-Bruch: Volker Wissing ist jetzt auch Justizminister. © dpa

Plötzlich wieder Opposition: Die FDP-Politiker (v.l.) Christian Lindner, Marco Buschmann (FDP) und Bettina Stark-Watzinger (FDP) erhalten im Schloss Bellevue ihre Entlassungsurkunden. © Kay Nietfeld/dpa

München – Die Nacht, wie immer sie für ihn lief, hat Olaf Scholz nicht milder gestimmt. Der Kanzler ist am Donnerstagmorgen bei der Telekom zu Gast, natürlich geht es auch um das Beben des Vorabends, den Bruch der Ampel und, man muss es so sagen, den persönlichen Bruch zwischen ihm und Christian Lindner. Wie tief die Enttäuschung sitzt, war schon am Mittwoch zu spüren, als Scholz mit seinem Ex-Finanzminister in einer scharf formulierten Rede abrechnete. Jetzt, Stunden später, legt er nach.

Scholz spricht über die Finanzierung der Ukraine-Hilfe aus dem laufenden Haushalt, die einer der Ampel-Streitpunkte war. Wörtlich sagt er dann, ohne den FDP-Chef beim Namen zu nennen: „Wenn man jetzt zu der Überzeugung kommt, das müssen wir einfach mal so nebenbei ausschwitzen, dann zündet man das Land an.“ Christian Lindner, eben noch Koalitionspartner, jetzt Brandstifter.

Es ist bemerkenswert, was sich da gerade alles entlädt. Das Bündnis, das sich mal Fortschrittskoalition nannte und Lächel-Selfies verbreitete, liegt nach langem Krampf seit Mittwoch in Trümmern, und zumindest zwei ehemalige Partner bewerfen sich seither mit Schutt. Auch Lindner kann sich gestern ein Nachtreten nicht verkneifen. Scholz habe die Ukraine-Hilfe in den letzten Gesprächen nur noch als Vorwand genutzt, um 15 Milliarden Euro neue Schulden zu machen. Dem „Diktat“, dafür die Schuldenbremse auszusetzen, habe er sich aber nicht gebeugt. Lindner spricht von „Prinzipientreue“ und wiederholt den Vorwurf, der Kanzler habe ihn beim Thema Schulden zum Bruch seines Amtseids aufgefordert. Unter den Ampel-Problemen habe er „gelitten“, sagt der FDP-Chef. „Ich habe mich in den anderen getäuscht.“ Scholz nennt er immer wieder kühl „den noch amtierenden Bundeskanzler“.

Man muss all das ein Stück weit verstehen. Wo viele im Land Erleichterung empfinden dürften, dominiert für die Ampel-Protagonisten der Frust. Alle beschuldigen sich gegenseitig, das Bündnis bewusst zertrümmert zu haben. Über den persönlichen Verletzungen und Animositäten schwebt aber drängend die Frage, wie es nun weitergeht. Der Kanzler hat angekündigt, in einer Minderheitsregierung mit den Grünen vorerst weitermachen zu wollen. Erst am 15. Januar will er die Vertrauensfrage stellen, um im Anschluss eine Neuwahl ermöglichen zu können. Das kann sich bis Ende März ziehen. Vor allem der Opposition geht das nicht schnell genug. Die Forderung an Scholz, schon kommende Woche die Vertrauensfrage zu stellen, ist gestern aus (fast) allen politischen Lagern zu hören.

Die Entscheidung aber liegt beim Kanzler selbst, niemand kann ihn drängen. Auch der Bundespräsident nicht, der gestern gleich zwei Mal vor die Kameras tritt. Am Vormittag ruft er alle Verantwortlichen zu „Vernunft und Verantwortung“ auf. „Das Ende einer Koalition ist nicht das Ende der Welt. Es ist eine politische Krise, die wir hinter uns lassen müssen und werden.“ Die Auflösung des Bundestags knüpft er, dem Grundgesetz entsprechend, an Voraussetzungen: Das Land brauche „stabile Mehrheiten und eine handlungsfähige Regierung“.

Am Nachmittag steht Frank-Walter Steinmeier noch mal im Mittelpunkt, diesmal als Scheidungsrichter. Im Schloss Bellevue überreicht er drei von vier FDP-Ministern ihre Entlassungsurkunden, würdigt kurz die Arbeit jedes Einzelnen. Auch Scholz ist anwesend, wenn auch fühlbar widerwillig. Zu den scheidenden FDP-Ministern hält er größtmöglichen Abstand.

Noch einer ist dabei: Volker Wissing, das vierte FDP-Kabinettsmitglied, der dem Ampel-Scheitern mit einer persönlichen Entscheidung die Krone aufsetzt. Denn statt mit den anderen Kollegen das Kabinett zu verlassen, wird er Verkehrsminister bleiben. Dafür verlässt er die FDP. „Ich distanziere mich damit nicht von den Grundwerten meiner Partei und möchte auch nicht in eine andere Partei eintreten“, sagt der frühere FDP-Generalsekretär am Morgen. Er wolle schlicht seine Partei nicht belasten. Dass Wissing mit Lindners konfrontativem Kurs in der Ampel haderte, ist bekannt.

Bis zur Neuwahl soll Wissing nun in einer Doppelrolle das Justizressort von Marco Buschmann übernehmen. Ähnliches gilt für Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne), der zusätzlich Bildungsminister wird. Einziger neu ernannter Ressortchef ist Jörg Kukies (SPD), Staatssekretär und Vertrauter des Kanzlers (ein Portrait finden Sie auf Seite 2 unten). Er ist Lindners Nachfolger als Finanzminister.

Zumindest personell besteht damit Klarheit. Die Frage, wie Scholz ohne Parlamentsmehrheit sinnvoll weiterregieren will, ist aber offen. Die rot-grüne Regierung muss sich fortan für jedes Vorhaben eine neue Mehrheit suchen, vorzugsweise bei der Union. Zumindest beim Thema Verteidigung hat deren Fraktionschef Friedrich Merz seinen Leuten offenbar freie Hand gegeben. Laut „Spiegel“ dürfen sie bei wichtigen Projekten für die Bundeswehr im Haushaltsausschuss mit Rot-Grün stimmen. Aber es gibt noch jede Menge weitere Baustellen, vor allem den Nachtragshaushalt für das laufende Jahr. Ohne ihn droht eine Haushaltssperre. Ob CDU und CSU ihn aber mittragen?

„Die Union steckt durchaus im Dilemma“, sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch. „Sie will nicht auf die Bremse treten, weil das nur AfD und BSW hilft.“ Alles zu blockieren, wäre aber auch falsch. „Dann könnte Scholz sagen: Die Union ist gar nicht so staatstragend, wie sie behauptet.“ Der Kanzler wolle seinerseits den Beweis antreten, dass er auch ohne die FDP Handlungsfähigkeit besitzt.

Für Merz, der dem Kanzleramt so nahe ist wie nie zuvor, ist die Frage der Zusammenarbeit Verhandlungssache. Bei einem Treffen bot er Scholz gestern einen Deal an: Man könne im Bundestag jederzeit über wichtige Gesetze sprechen, dafür müsse der SPD-Kanzler aber schon in den nächsten Tagen die Vertrauensfrage stellen. Scholz aber will an seinem Zeitplan festhalten. Das Treffen dauerte keine halbe Stunde – und endete ergebnislos. Später traf Merz auch den Bundespräsidenten, Thema dürften ebenfalls rasche Neuwahlen gewesen sein. Wenn es nach Merz geht: am liebsten im Januar.

So oder so, der Wahlkampf ist eröffnet. Und Christian Lindner, jetzt Oppositionspolitiker, formuliert erste Ziele. Er werde die FDP als Spitzenkandidat in die Wahl führen, sagt er, um dann sein Amt als Finanzminister wieder antreten zu können. Im Ministerium verabschiedete er sich mit den Worten: „Auf Wiedersehen!“

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