Der Platz, um den Alltag zu vergessen: An der Donau antwortet Sabine Welzel ihren rund 100 Brieffreunden. © JE
Gar nicht mehr so selbstverständlich: Schreiben lernen mit Stift und Papier. Vieles wird heute auf Tablets unterrichtet. © Getty
München/Windorf – Sabine Welzel ist noch nicht einmal aus ihrem Auto gestiegen, da hat die Steuerberaterin schon ihren Platz an der Donau auserkoren. Zweimal in der Woche fährt sie nach Markt Windorf – ein kleiner Erholungsort unweit von Passau. Statt Strandtuch und Sonnencreme hat sie einen Korb voller Umschläge, Briefmarken, Tesafilm, Schere und Briefpapier dabei – und dazu rund 100 Briefe von ihren Freundschaften aus der ganzen Welt. Japan, Südafrika, USA, Neuseeland. Sechs bis sieben Briefe landen jede Woche in Welzels Post. Jede einzelne Antwort schreibt sie von Hand. Stattdessen eine E-Mail oder WhatsApp Nachricht zu verfassen? Unvorstellbar. „In eine Mail passen keine Gefühle. Ich kann schon an der Art, wie meine Freundschaft meine Adresse schreibt, sehen, wie es meiner Brieffreundschaft geht.“
Brieffreundschaften wie ihre sind eine Seltenheit geworden. Generell gehört das Schreiben mit der Hand für viele Menschen nicht mehr zum Alltag. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Appinio schreiben 40 Prozent der Deutschen am häufigsten auf einer Tastatur – auf dem Smartphone, Tablet oder am Computer. Hingegen greift nur weniger als ein Fünftel der Befragten (19 Prozent) vorrangig zu Stift und Papier.
An vielen Schulen gibt es mittlerweile Tablet-Klassen
An diese Entwicklung passten sich inzwischen auch Schulen an. Die Realschule Gauting (Landkreis Starnberg) führte 2012 als eine der ersten Schulen in Bayern sogenannte Tablet-Klassen ein. Katrin Ruppert ist Lehrerin für die Fächer Deutsch, Kunst und Werken. Aus ihrer Sicht haben die digitalen Geräte große Vorteile für die 953 Schüler. „Bei den Schülern herrscht inzwischen eine unglaublich hohe Kompetenz vor, etwas zu präsentieren, zu visualisieren. Vor die Klasse zu treten und eine Präsentation zu halten, ist keine Herausforderung mehr.“ Hefte, Texte, Bücher, alles ist jederzeit digital aufrufbar.
Gleichzeitig weiß Ruppert um die Gefahr, dass die Kinder so das Schreiben verlernen könnten. Damit das nicht passiert, hat Ruppert sogar einen Handschriftkurs am Nachmittag eingeführt. „Weil viele Kinder von der Grundschule eben mit einer nicht gut lesbaren Handschrift zu uns kommen“, erklärt sie. „Die Unterschiede waren vor Corona nicht so enorm. Ich habe das Gefühl, das hat es extrem verschärft, weil die Kinder weniger geübt haben“.
Lehrer stellt das nun vor ganz neue Herausforderungen. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) beklagt seit Jahren, dass es Grundschulkindern zunehmend schwerfällt, flüssig und lesbar zu schreiben. Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) berichtet, dass Schüler, die sich bereits vor der Pandemie mit dem Schreiben schwertaten, weiter abgehängt wurden. Dabei habe das Schreiben von Hand „positive Effekte auf die Gehirnfunktion“, etwa für Lesekompetenz, Rechtschreibung und Textverständnis.
Wie wichtig die Handschrift für die Entwicklung und Vernetzung von Synapsen ist, weiß Tal Hoffmann, Geschäftsführerin des „Schreibmotorik Instituts“ im mittelfränkischen Heroldsberg – das nach eigenen Angaben führende Forschungsinstitut in Europa zum Thema Handschreiben und Schreibmotorik. „Studien zeigen, dass die derzeitigen digitalen Schreibgeräte nicht die gleichen Vorteile bieten wie das Schreiben von Hand und manchmal sogar schädlich sind. Dies gilt insbesondere, je jünger die Kinder sind“, erklärt Hoffmann. „Das Schreiben ist wie Sport für unseren Körper und unser Gehirn. Wir bewegen unsere Hände auf dem Papier, um Wörter und Sätze zu schaffen, die andere verstehen können. Dabei unterstützt uns unser ganzer Körper von Kopf bis Fuß.“
Daher finden sich in den Gautinger Klassenzimmern noch immer Kreidetafeln, auch Papier und Füller gehörten nach wie vor in den Unterricht. In Deutsch und Englisch wird noch in Hefte geschrieben. Denn ihre Klausuren müssen die Schüler weiterhin per Hand bewältigen – auch wenn es schon erste digitale Testversuche gibt. „Das Schreiben mit der Hand ist ein wichtiger Prozess“, sagt Deutschlehrerin Ruppert. Auch das Buch gewinne wieder an Stellenwert. Trotzdem will die Schule weiter an den Tabletklassen festhalten. „Das ist einfach die Zukunft“, meint Ruppert.
Dass die Handschrift in ein paar Jahren ganz verschwindet, kann sie sich nicht vorstellen. „Niemals. Selbst wenn wir die Prüfungen nur digital schreiben, ist die Handschrift trotzdem noch wichtig. Handgeschriebenes bleibt für viele am besten im Kopf.“
Zurück an die Donau zu Sabine Welzel. Wenn sie in Vilshofen auf ihrer Parkbank sitze und Zeile für Zeile niederschreibe, erzählt sie, fühle sie sich mit ihren Brieffreunden tief verbunden. „In dem Moment ist es so, als ob der Mensch neben mir ist. Man lernt die Person von innen heraus kennen.“ Sie nimmt sich ein orangefarbenes Briefpapier aus ihrem Strandkorb. Der Brief geht an eine Freundin aus Morioka in Japan. Oben rechts bringt die Linkshänderin fein säuberlich das Datum an. Drei Minuten vergehen, dann hat Welzel die erste Seite auf Englisch fast voll. Da passiert es: In der vorletzten Zeile unterläuft Welzel ein Rechtschreibfehler. Macht nichts. Vorsichtig überklebt sie den Lapsus mit zwei Herzchen-Stickern. „Sieht doch gleich viel ansprechender aus.“
Zwei Stunden später wirft sie in Vilshofen den Brief ein und hofft, dass er zügig sein Ziel erreicht. Nicht immer ist das der Fall: Einen Brief aus Südafrika erhielt Welzel erst nach vier Monaten. Eine Mail wäre dagegen in Echtzeit verschickt. Trotzdem bleibt Sabine Welzel lieber beim Briefeschreiben. „In 40 Jahren wird das Briefeschreiben eine Rarität sein. Sich drei Stunden hinzusetzen, wenn doch immer alles gleich sofort sein muss“, sagt sie.