Auch abends beim Einschlafen hilft Muttermilch den Neugeborenen. © Fotolia
Ein Gerät zum Auftauen der tiefgefrorenen Milch.
Anna-Katharina Scherer mit Julius und Theodor. © privat
Prof. Marcus Krüger schaut nach Frühchen Anton, der noch auf fremde Muttermilch angewiesen ist.
Muttermilchvorräte im Tiefkühlschrank der Frauenmilchbank in Harlaching. Alles ist genau beschriftet.
Sabrina Weigel leitet die Kinderintensivstation und die Frauenmilchbank. Hier steht sie in der Milchküche. © Alle Fotos: Jens Hartmann
München – Über dem Inkubator prangt ein kleines Schild: „Unser Wunder“ steht darauf geschrieben. Das Wunder, ein Bub namens Anton und gerade einmal 700 Gramm schwer, schläft gerade, überwacht von der Hochleistungsmedizin einer Frühgeborenen-Intensivstation, die sicherstellt, dass es diesem winzigen Jungen an nichts fehlt – nicht an Wärme, nicht an Sauerstoff und auch nicht an Muttermilch.
Anton, der vor drei Tagen auf die Welt gekommen ist, wird über eine Magensonde ernährt. Etwa alle zwei Stunden erhält er einen Milliliter Milch, die, und das ist das Besondere in der München Klinik Harlaching, aus der hauseigenen Frauenmilchbank stammt. Die Mutter selbst hat noch nicht genügend Milch, um ihr Kind versorgen zu können. Deshalb bekommt ihr Sohn jetzt Frauenmilch, also Muttermilch einer anderen Frau, die diese vor einigen Wochen und während ihrer Zeit auf der Station gespendet hat.
In Bayern gibt es wieder fünf Frauenmilchbanken
Im Februar ist die Frauenmilchbank in Harlaching in Betrieb gegangen. Sie ist neben dem Klinikum Großhadern die zweite in München und die fünfte in Bayern. Insgesamt gibt es in Deutschland rund 50 Frauenmilchbanken. Viele dieser Spenderbanken haben erst in den vergangenen Jahren eröffnet – deutschlandweit erlebt das alte Konzept der Milchsammelstelle eine Renaissance (siehe Artikel unten). Dennoch, der Bedarf wäre sehr viel größer. „Ein Großteil der über 200 Perinatalzentren“, kritisiert die Frauenmilchbank-Initiative, „hat keinen Zugang zu gespendeter Milch aus einer Frauenmilchbank.“
Professor Marcus Krüger, Chefarzt der Neonatologie in der München Klinik Schwabing und Harlaching, wirft einen prüfenden Blick auf die Monitore und den kleinen Anton, nickt zufrieden und bedeutet dann der Reporterin und dem Fotografen, dass sie das Zimmer wieder verlassen mögen. „Wir haben“, sagt er, nachdem er die Türe leise hinter sich geschlossen hat, „in den vergangenen Jahren bei der Versorgung von Frühgeborenen sehr viel erreicht.“ Selbst kleinsten Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 750 Gramm könne heutzutage ein guter Start ins Leben ermöglicht werden. „Und Muttermilch“, betont der Chefarzt, „spielt hier eine ganz entscheidende Rolle.“
Muttermilch besteht aus mehr als 2000 Inhaltsstoffen, von denen einige immer noch nicht vollständig entschlüsselt sind. Dieses Superfood der Natur wirkt gegen Bakterien, hemmt Entzündungen und stärkt das Immunsystem – und das sind nur einige der Gründe, warum dieses Superfood für alle Neugeborene so wichtig ist (siehe Kasten). Für zu früh geborene Kinder gilt dies umso mehr. „Es ist eindeutig wissenschaftlich belegt, dass auch die kleinsten Frühgeborenen durch die Ernährung mit Muttermilch einen Entwicklungsvorteil haben“, sagt Marcus Krüger. „Muttermilch fördert die neurokognitive Entwicklung und senkt gleichzeitig das Risiko einer schweren Darmentzündung, was mit das größte Risiko für frühgeborene Kinder darstellt.“
Stress bei der Geburt verzögert die Milchbildung
Rund eineinhalb Jahre haben die Vorbereitungen gedauert, um die Frauenmilchbank in Harlaching aufzubauen. Prozesse, Hygiene, Datenschutz, Schulung des Fachpersonals, gesetzliche Bestimmungen – Sabrina Weigel, die Stationsleiterin der Kinderintensivstation und auch Leiterin der Frauenmilchbank, bricht die Aufzählung ab und lacht. „Es war wirklich viel, was wir bedenken und etablieren mussten.“ Dazu gehörte auch, dass die Klinik einer Genehmigung als Lebensmittelhersteller bedurfte. Erst dann durfte die Frauenmilchbank eröffnet werden.
Auf der Intensivstation in Harlaching werden die Frühchen bereits wenige Stunden nach der Geburt das erste Mal mit Muttermilch versorgt. Das sei wichtig, sagt der Chefarzt, damit der Magen-Darm-Trakt sich an die Milch gewöhnen könne und auch der Darm sich entleert. Das Problem dabei ist: Die meisten Mütter haben zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend Milch, weil sie sich gerade selbst von den Folgen der Geburt erholen oder weil es Vorerkrankungen gibt, die die Frühgeburt ausgelöst haben. „Auch ein Kaiserschnitt kann die Milchbildung verzögern“, sagt Weigel. Früher, erzählt sie, habe man in solchen Fällen die Milch aus anderen Frauenmilchbanken kaufen müssen – aus Dresden zum Beispiel oder Freiburg. Aber das sei zeitweise schwierig gewesen, weil dort nicht immer genug Frauenmilch zur Verfügung stand. Auf dem freien Markt, den es tatsächlich für Muttermilch gibt, wollte man sich nicht bedienen. „Da wird die Milch verschiedener Frauen zusammengeschüttet und das entspricht nicht unseren Qualitätsanforderungen“, sagt Chefarzt Krüger. „Bei uns gilt: Ein Kind bekommt die Muttermilch von möglichst einer einzigen Spenderin.“
Grundsätzlich aber, ergänzt die Stationsleiterin, sei es immer ihr Ziel, dass die Mütter ihre Kinder mit der eigenen Milch versorgen können. Deshalb gibt es auf der Station auch eine umfangreiche Still- und Laktationsberatung. „Die Frauenmilchbank“, so Weigel, „ist hier eine wichtige Übergangslösung, die den Müttern gleichzeitig den Stress nimmt, jetzt schnell Milch produzieren zu müssen.“ Stress und Milchbildung vertragen sich nicht. Und schon eine Frühgeburt sei maximaler Stress. „Da soll sich die Mutter nicht auch noch darum sorgen müssen, wann bei ihr die reichliche Milchbildung einsetzt.“
Die Spenden lagern mit einem Barcode im Tiefkühlschrank
In einem kleinen Raum auf der Intensivstation wurden die Tiefkühlschränke untergebracht, in denen die gespendete Muttermilch lagert. Sabrina Weigel öffnet kurz die Tür. Die Regale, in denen verschieden große Fläschchen stehen, sind gut gefüllt. Jedes Fläschchen ist mit einem Barcode versehen, der, wenn er ausgelesen wird, verrät, welche Frau zu welchem Zeitpunkt die Muttermilch gespendet hat.
Irgendwo in diesen Reihen stehen auch die Spenden von Anna-Katharina Scherer. Ihre Zwillinge Julius und Theodor kamen im Juni sieben Wochen zu früh auf die Welt und mussten neun Tage auf der Intensivstation und später noch einige Tage auf der Beobachtungsstation versorgt werden. In den allerersten Tagen wurden die beiden Buben mit Milch aus der Frauenmilchbank ernährt. „Ich war sehr froh, dass es diese Möglichkeit gab, und habe sie auch dankbar angenommen“, sagt die 33-Jährige.
Die Münchnerin konnte ihre Buben aber bald selbst versorgen. Und nicht nur das. „Ich hatte viel mehr Milch, als die Zwillinge benötigt haben“, sagt Anna-Katharina Scherer. Diese Milch hat sie gespendet. Gefühlt, sagt sie und lacht, habe sie in der Zeit auf der Station ständig abgepumpt. „Aber ich habe es wirklich gerne gemacht. Dass ich einen kleinen Teil dazu beitragen konnte, dass es anderen Kindern gut geht, das hat mich stolz gemacht.“