Kinder zu stillen, galt im Westen plötzlich als unzeitgemäß

von Redaktion

München – Frauenmilchbanken sind keine neue Erfindung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in mehreren Städten Versuche, bedürftige Säuglinge mit gespendeter Frauenmilch zu ernähren, etwa in Wien, Boston, Düsseldorf und New York. Kinder vermögender Familien wurden damals von Ammen großgezogen. Es gab aber auch Ammen, die direkt an Kinderkliniken angestellt waren, da man beobachtet hatte, dass Säuglinge, die mit Muttermilch oder Frauenmilch ernährt wurden, eine bessere Überlebenschance hatten.

1919 gründete dann die Kinderärztin Marie-Elise Kayser eine Sammelstelle im Krankenhaus Magdeburg-Altstadt. Sie gilt als die erste Frauenmilchbank Deutschlands. Im Unterschied zu anderen Krankenhäusern im Deutschen Kaiserreich, in denen bereits zuvor Säuglinge mit gespendeter Frauenmilch versorgt wurden, warb die Ärztin auch außerhalb von Kliniken und Wöchnerinnenheimen um Spenderinnen, um eine möglichst große Milchmenge zu erzielen.

1925 ging Marie-Elise Kayser nach Erfurt, wo ihr Mann die Leitung der dortigen Landfrauenklinik übernahm. Auch hier gründete sie eine Frauenmilchsammelstelle. Der Erfolg der beiden Einrichtungen sprach sich herum. In den 1930er- und 1940er-Jahren wurden in nahezu allen deutschen Großstädten solche Spenderbanken gegründet, in München 1937.

1972 machte die letzte Spenderbank dicht

1959 gab es in Deutschland 86 Frauenmilchbanken, davon 62 in der DDR. Hier wurden die Einrichtungen staatlich gefördert. Anders in der Bundesrepublik: Hier trat in der Nachkriegszeit die künstliche Säuglingsnahrung ihren Siegeszug an. Flaschenmilch galt als sicher und praktisch, während das Stillen als unzeitgemäß, ja sogar gesundheitsgefährdend für das Kind dargestellt wurde. Die Stillraten sanken enorm und die Frauenmilchbanken verloren ihre Bedeutung. 1972 wurden die letzten Spenderbanken in Westdeutschland dichtgemacht.

2016 gab es nach Angaben der European Milk Bank Association (Emba) in Deutschland gerade einmal 15 Frauenmilchbanken – 13 davon in den östlichen Bundesländern. Es war übrigens das Münchner Klinikum Großhadern, das 2012 als erster Standort in den alten Bundesländern wieder eine Frauenmilchbank eröffnet hat. Aktuell gibt es in Deutschland rund 50 dieser Einrichtungen, Tendenz weiter steigend. Seit diesem Jahr gilt eine Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die die Kliniken bei der Einrichtung und Organisation von Frauenmilchbanken unterstützt. „Muttermilch ist wieder Thema“, sagt Neonatologie-Chefarzt Marcus Krüger. „Das merken wir auch an dem großen Interesse an unserer Frauenmilchbank.“

Kaum hatte die Einrichtung in Harlaching eröffnet, erzählt Krüger, gab es Anfragen anderer Kliniken, ob sie mitversorgt werden könnten. Krüger will das für die Zukunft nicht ausschließen. Es müssten Netzwerke geschaffen werden, aus denen sich die Kliniken bedienen könnten, sagt er. Aber das brauche Zeit. Einen ersten Schritt ist das Klinikum Harlaching bereits gegangen. Seit September wird auch das Schwabinger Schwesternkrankenhaus mit Frauenmilch aus Harlaching versorgt.
BEATRICE OSSBERGER

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