Trister Einblick in einen Schutzraum: Hier der Atomschutzbunker in Bottrop. © Imago
Es gibt gemütlichere Küchen als diese im Schutz-Bunker der Stadtverwaltung Frankfurt. © imago
Relikt aus einer früheren Zeit? Hier eine Szene aus dem Bunkermuseum Frauenwald in der Nähe von Suhl. © Gallup/Getty Images
München – Dunkelgrüner Efeu schlängelt sich wie ein Krake an den dreckig-grauen Mauern nach oben. Verrostete Ketten sperren den Zugang zu den Treppen ab, die zu einer dicken Stahltür führen. Die Stufen sind von Moos und Unkraut fast vollständig bedeckt. Große und kleine Bäume wachsen um das alte Gebäude herum. Aus den kleinen Lüftungsschlitzen in den dicken Mauern schlängeln sich dünne Äste ins Freie.
Das seltsame Gebäude, das fast vollständig von der Natur zurückerobert wurde, ist ein Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Er steht wie eine Trutzburg aus einer längst vergessenen Zeit in der Franz-Nißl-Straße im Münchner Stadtteil Allach und ist der letzte Schutzbau aus dem Zweiten Weltkrieg in der Landeshauptstadt, der noch im Urzustand erhalten ist. Bei den Luftangriffen der Alliierten hat er bis 1945 vielen Menschen das Leben gerettet. Doch heute ist der Hochbunker ein bröckelndes Beispiel dafür, wie es um den Schutz der Bevölkerung im Kriegsfall bestellt ist.
Von den 579 Anlagen funktioniert: keine
Noch 579 Schutzräume gibt es in Deutschland, listet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) auf. 156 in Bayern. 16 in München. Das Amt teilt auf Nachfrage trocken mit: „Sämtliche noch dem Zivilschutz gewidmeten Anlagen sind weder funktions- noch einsatzbereit.“
Kein funktionierender Bunker, nirgends – aber die Weltlage hat sich drastisch geändert in den letzten 1000 Tagen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine herrscht wieder ein Krieg auf europäischem Boden, ein in vielen Bereichen konventionell geführter mit Bomben, Raketen, Sprengsätzen. Politiker warnen vor einem Szenario der Eskalation auf Nato-Gebiet. Ist es an der Zeit, die Friedensdividende der letzten Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg zu überdenken und wieder über Bunker zu reden?
Der Anstoß dazu kommt aus Berlin. Das Innenministerium hat einige Behörden beauftragt, darunter das BBK, den Stand der Bunker zu erfassen und herauszufinden, welche Schutzräume Deutschland künftig brauchen wird. Seit ein paar Wochen kursiert ein „Sachstandsbericht“ dazu. Er klingt brisant, das 25-seitige Papier liegt unserer Zeitung vor. Tenor: Der Staat wird nicht genügend Schutzraum schaffen können, jedenfalls nicht rechtzeitig. Also: Schützt euch selber.
Im Kern gibt es drei Schutzvarianten
Drei Schutzvarianten gibt es, im Behördendeutsch säuberlich abgekürzt: ÖSR, HSR und BSR. Öffentliche Schutzräume eben gibt es praktisch nicht mehr. Sie neu zu schaffen – Bunker, Garagen, unterirdische Bahnhöfe – oder zu sanieren wäre zu teuer, zu zeitaufwendig: Geld fehlt, Zeit fehlt, Platz fehlt. Die Hausschutzräume wären dezentral, aber hochgerüstet: Eingangsschleuse, Filterraum, Notausstieg, Lüftung, Sanitärbereiche, dicke Decken. Sie können beim ursprünglichen Bau mitgedacht werden, nachträglich eingefügt oder separat „unterirdisch angelegt“ werden. Doch selbst wenn der Bund Milliarden zuschießt, werde es „unter besten Voraussetzungen mehrere Jahrzehnte“ dauern, davon genug zu bauen, notieren die Beamten.
Es bleibt das Kürzel BSR: Bauliche Selbstschutzräume sollen also die Lösung sein für den hoffentlich unrealistischen Fall eines Angriffs. Dabei kann es sich um Kellerräume handeln, die provisorisch durch Abdichtungen der Fenster sicher gemacht werden können. Manchmal reichen da Holzbretter oder Steine. „Die Bausubstanz in Deutschland ist flächendeckend so gut, dass Keller und innenliegende Räume bereits einen guten Schutz vor herumfliegenden Trümmerteilen und Druckwellen bieten“, sagt eine BBK-Sprecherin.
Genau darum geht es nämlich. In der neuen Gefahrenanalyse rechnet der Bund im Szenario einer Eskalation vor allem mit Lebensgefahr durch Splitter und Druckwellen, wenn „moderne Präzisionswaffen gezielt einzelne kriegsrelevante Objekte zerstören“ können, Vorwarnzeit nur wenige Minuten. Vorteile der BSR: geringe Kosten, eine schnelle Umsetzung. Damit alle 85 Millionen Einwohner in Sicherheit gebracht werden könnten, bräuchte es – lediglich – fünf Schutzplätze pro Keller in Deutschland. Sollten sich Vermieter darum nicht kümmern, sieht es für Mieter schlecht aus.
Die Bunker-Branche ist skeptisch
Unter Experten und in der Baubranche ist der Maßnahmenkatalog umstritten. Was die im Bericht angepriesene Variante bringe, fasst zum Beispiel Peter Aurnhammer knapp zusammen: „Das beruhigt eher die Bevölkerung, aber wirklich Schutz bietet es nicht“, sagt der geschäftsführende Inhaber des Deutschen Schutzraum-Zentrums, ein Bauunternehmen. Die Sorge lautet: In nuklear geführten Kriegen schütze der Keller schlecht. Dennoch: „Alles ist besser als die Fensterscheibe.“ Sein Gegenvorschlag: Private Bunker selbst bauen lassen. Und das nicht bloß mit Brettern und Steinen, sondern professionell. Er spricht aus Eigeninteresse, sein Unternehmen bietet eben jene Bunker an. Ein klassischer Schutzbunker mit Fachplanung kommt auf 20 000 Euro, das ist die günstigste Variante.
Womit man beim Geld wäre, denn die Zahlen für den Schutz im Extremfall sind schwindelerregend. Für das ÖSR-Konzept, also eine Vollabdeckung mit neuen öffentlichen Schutzräumen, nennt der vertrauliche Bericht Kosten von 140 Milliarden Euro. Um die bestehenden Rest-Bunker halbwegs auf altem Schutzniveau aufzumöbeln, wären es 152 Millionen Euro. Die Hausschutzräume würden allein an staatlichen Zuschüssen 131 Milliarden Euro verschlingen. Der BSR-Plan wird nicht beziffert. Das gehe ja ohne Handwerker, mit „geringen Kosten“ für Material wie Sandsackhüllen, Sozialhilfebezieher würden eventuell unterstützt.
Die Experten sind sich sicher: Über Jahrzehnte müssten Schutzräume gebaut werden, dafür brauche es geeignete Strategien, so Jörg Diester, im Hauptberuf Sprecher der Handwerkskammer Koblenz. Eine Idee sticht hervor: Förderprogramme. Diese betont auch Aurnhammer: Dabei könne es sich um finanzielle Zuschüsse bei Tiefgaragen handeln, bei Neubauten, bei U-Bahnhöfen. Sie alle könnten wieder zu Mehrzweckanlagen umfunktioniert werden.
Das klingt gut. Die Wahrheit ist: Mit dem Vorausschauen hat es nicht gut geklappt. Die Republik und die Bunker – das ist ein ewiges Hin und Her. Während des Kalten Kriegs wurden in den 60er-Jahren öffentliche Schutzräume, meist Tiefgaragen oder unterirdische Bahnhöfe, teils neu hergerichtet, teils saniert. Die Motivation: Die Bevölkerung sollte besonders in Ballungszentren Schutz finden. Unterstützt wurde das Vorhaben durch finanzielle Hilfen, wie das BBK erläutert.
2007 schaffte der Bund die Bunker ab
2007 wurde im Zuge der Friedensdividende von Bund und Ländern beschlossen, das Schutzbaukonzept abzuschaffen. Konkret bedeutete das, dass öffentliche Schutzräume nicht mehr erhalten wurden. Sukzessive wurden die Bunker aus der Zivilbindung entlassen, also entwidmet. Das Instandhalten der Bunker sei schlichtweg zu teuer gewesen, heißt es vonseiten der Experten.
Mit Anbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wurde diese Entwidmung gestoppt. Das Innenministerium beauftragte im März 2022 unter anderem das BBK, eine Bestandsaufnahme der noch existierenden öffentlichen Schutzräume durchzuführen. Weitere Elemente des Konzepts: Eine Bunker-App soll den Weg zum nächstgelegenen Schutzraum zeigen, eine Informationskampagne soll die Menschen mehr dafür sensibilisieren, dass Schutzräume wieder wichtiger werden.
Weg vom Großbunker, hin zum kleinen Schutzraum: Es ist ein Konzept, das auch mehrere europäische Nachbarn verfolgen. Und manche von denen scheinen es besser zu können. Die Schweiz etwa bietet Schutzräume für beinahe 100 Prozent der Bevölkerung an. In München muss weiter auf Garagen oder Bahnhöfe gesetzt werden. Oder eben auf mit Efeu überwucherte Bunkerrelikte wie in Allach.