Profis im OP-Saal: Herzchirurg Prof. Markus Krane (li.) und Anästhesist Prof. Peter Tassani-Prell. © Herzzentrum/DHM
Höchste Konzentration: Ein Patient wird im Deutschen Herzzentrum am offenen Herzen operiert. © Foto: DHM
München – Rainer Muck hat eine heikle Herz-OP vor der Brust: Seine Hauptschlagader ist stark erweitert, noch dazu an einer besonders kritischen Stelle. Um dieses lebensbedrohliche Aneurysma zu beseitigen, müssen die Spezialisten des Deutschen Herzzentrums sein Brustbein der Länge nach aufsägen, den Brustkorb eröffnen und ihren Patienten an die Herz-Lungen-Maschine anschließen. Dabei wird sein Körper auf 32 Grad heruntergekühlt, damit das Gehirn keinen Schaden nimmt. „Was kommt da alles auf mich zu, und wie werde ich mich nach der OP fühlen?“, fragt er sich.
Dieses Kopf-Kino ist für Rainer Muck alles andere als vergnügungssteuerpflichtig. Doch als der Manager nach dem mehrstündigen Eingriff auf der Intensivstation aufwacht, geht es ihm viel besser als befürchtet: „Ich war unheimlich überrascht, dass ich überhaupt keine Schmerzen hatte. Ich spürte keine Benommenheit, und mir war auch kein bisschen übel, so wie ich das von früheren Operationen etwa am Darm oder an den Füßen kannte. Es war wirklich erstaunlich.“
Schon mehr als 1000 Patienten akupunktiert
Böse Zungen könnten spotten, Muck sei bestimmt mit einem besonders hoch dosierten Medikamenten-Cocktail betäubt worden, aber das Gegenteil ist der Fall – und zwar schon während der Operation: „Wir konnten bei der Narkose vollständig auf Schmerzmittel verzichten“, berichtet Professor Peter Tassani-Prell. Stattdessen stach der Chefanästhesist des Herzzentrums dem Patienten sechs Akupunkturnadeln und setzte diese unter Strom. Mit dem gewünschten Effekt, dass die Schmerzmittelpumpe, die einsatzbereit direkt neben dem Patienten stand, gar nicht gebraucht wurde.
Was für Laien nach einem sehr speziellen Sonderfall klingt, ist im Herzzentrum gängige Praxis. Vor und nach Rainer Muck sind bereits mehr als 1000 Patienten mit dieser Methode schmerzfrei durch die OP geleitet worden. „Die Elektro-Akupunktur ist sehr sicher. Würde sie nicht wirken, könnten wir sofort reagieren und Schmerzmittel verabreichen. Aber ich persönlich kann mich an keinen einzigen solchen Fall erinnern“, erläutert Tassani-Prell, der das Institut für Kardio-Anästhesiologie im Herzzentrum seit 2003 leitet und zu Deutschlands erfahrensten Narkose-Spezialisten zählt.
Wissenschaftlich ist die Akupunktur noch nicht restlos erforscht. „Wir können aus schulmedizinischer Sicht nicht genau erklären, wie sie wirkt. Fakt ist aber, dass sie funktioniert“, sagt Tassani-Prell pragmatisch. Zumal der Patient während der Herz-OP durch die Akupunktur kein zusätzliches Risiko eingeht. Sein Blutdruck und seine Herzfrequenz werden mit Hightech-Geräten permanent überwacht. Beide Werte würden ansteigen, wenn der Patient Schmerzen hätte.
Für diesen Fall steht eine bereits angeschlossene Schmerzmittelpumpe bereit, die in der Fachsprache Perfusor genannt wird. Der Anästhesist könnte sofort per Knopfdruck reagieren. Der Patient bekäme davon während der Narkose nichts mit. Denn neben der Schmerztherapie (Analgesie) erhält er immer auch ein Schlafmittel (Hypnose), beispielsweise Propofol. Zudem wird er beatmet. „Dadurch wird sichergestellt, dass das Gehirn immer ausreichend mit Sauerstoff versorgt ist“, sagt Tassani-Prell.
Die Schmerztherapie auf die sanfte Tour hat Tassani-Prell von seinem Vorgänger gelernt. In den 1970er-Jahren waren Herz-Operationen noch wesentlich riskanter als heute – auch wegen der Narkose. Damals standen nur Schmerzmedikamente zur Verfügung, die den Kreislauf der Patienten stark belasteten. Gleichzeitig gab es Berichte aus China, dass dort größere Operationen erfolgreich unter Akupunktur durchgeführt werden. Daraufhin reiste der damalige Narkose-Chefarzt des Herzzentrums ins Reich der Mitte, um sich die Methode abzuschauen. Ein Coup, der bis heute nachwirkt. Die Elektro-Akupunktur wird immer noch häufig eingesetzt.
Dabei halten sich die Narkose-Spezialisten des Herzzentrums an die Vorgaben der traditionellen chinesischen Medizin. „Wir setzen insgesamt sechs Nadeln an drei verschiedenen Punkten: am Unterarm, am Hals und am Ohr – jeweils auf beiden Seiten“, erläutert Tassani-Prell. Um die exakten Akupunktur-Punkte zu ermitteln, misst der Anästhesist die Breite der Finger ihres Patienten. Die Nadeln werden an ein Elektro-Stimulationsgerät angeschlossen. Es gibt kontinuierlich 20 Hertz ab und läuft während der gesamten OP.
Der entscheidende Mehrwert der traditionellen chinesischen Methode: „Dadurch können einige Medikamente und sämtliche synthetisch hergestellten Opioide eingespart werden. Das sind starke Schmerzmittel. Das bekannteste ist Morphin. Heute wird in der Regel Sufentanil verwendet, das 500 bis 1000 Mal stärker als Morphin wirkt“, erklärt Tassani-Prell. „Eine Überdosis ist lebensgefährlich. Aber auch normale Dosen können Nebenwirkungen verursachen, zum Beispiel Schwindel, Übelkeit oder eine Atemdepression. So nennt man eine Verflachung der Atmung, die lebensbedrohlich werden kann. Allerdings können wir die Medikamente heute durch moderne Überwachungstechnik wie die direkte Blutdruckmessung exakt dosieren. Deshalb ist die Narkose heute sehr sicher, die Komplikationsrate äußerst gering.“
Warum wird Elektro-Akupunktur nicht bei jeder Operation genutzt? Tassani-Prell weiß darauf Antwort. „Der Zeit- und Personalaufwand ist relativ groß“. Ein Anästhesist, der das Verfahren beherrscht, braucht ungefähr eine halbe Stunde für die Vorbereitung. Wenn es schnell gehen muss, ist eine Injektion von Schmerzmitteln die erste Option. Andererseits lohnt sich die investierte Extra-Zeit für viele Patienten: Obwohl sie während der OP gar keine Opiate erhalten, haben sie hinterher auch weniger Schmerzen. Das belegen Studien aus dem Herzzentrum.
Weil natürliche Behandlungsmethoden seit Jahren immer beliebter werden, fragen auch Patienten im Herzzentrum zunehmend nach der Akupunktur-Narkose – und zwar keinesfalls nur Globuli-Verfechter oder Menschen mit Hang zum Hokuspokus. „Wenn man einen schweren Eingriff durchstehen muss, nutzt man gerne jede Möglichkeit, den Körper nicht zusätzlich zu belasten. Mich hat das Ergebnis überzeugt – zumal ich den Vergleich zur herkömmlichen Narkose ziehen kann“, sagt Muck, der lange in der Geschäftsführung einer Warenhauskette gearbeitet hat. „Deshalb kann ich die Elektro-Akupunktur nur empfehlen.“