München – Nach dem Sturz von Baschar al-Assad ist offen, ob und wie schnell sich die Rebellengruppen auf eine Verteilung der Macht einigen können. Auch für Europa ist das eine wichtige Frage, denn in Syrien gibt es radikale Islamistenmilizen, die nun wieder erstarken und neuen Terror nach Europa bringen könnten. Das syrische Bündnis Haiat Tahrir al-Scham (HTS), das mit anderen Gruppierungen Assad gestürzt hat, ist kein einfacher Rebellenzusammenschluss, sondern eine islamistische Miliz. Einige Hauptgründungsmitglieder haben ihren Ursprung in der Terrororganisation Al Kaida. Experten fürchten ein Wiederaufleben des religiös motivierten Terrorismus in der Region.
Der Terror- und Nahostexperte Hans-Jakob Schindler vom Counter Extremism Project sieht noch ein weiteres Risiko. „Aus Sicht der internationalen Terrorabwehr ergibt sich eine extrem heikle Situation“, sagte Schindler unserer Zeitung. Erstens: Die Gruppe habe zwar nicht unbedingt eine Agenda, die über Syrien hinausgehe. Aber: „Sie hat auch kein Problem mit Personen in ihrem Gebiet, die auch außerhalb Syriens terroristisch aktiv werden wollen.“ Zwar war HTS vor einigen Jahren gegen die Al-Quaida-Gruppierung Hurras al Din vorgegangen. „Aber dabei ging es eher um das Ausschalten interner Konkurrenz als um einen Kampf gegen radikale Ideologie“, sagt Schindler.
Zweitens könnte es sehr bald zu einer Zuspitzung der Konflikte mit den Kurden kommen. Kurden stellen die größte Minderheit in Syrien, die meisten leben im Norden entlang der Grenze zur Türkei. Die syrischen Kurden gelten als Bollwerk gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS). In den Kurdengebieten leben zahlreiche ehemalige Kämpfer des Islamischen Staats in Syrien (ISIS) unter der Bewachung kurdischer Truppen. Viele werden in Lagern festgehalten – teils unter Bedingungen, die von Menschenrechtsorganisationen kritisiert werden. Am Sonntag erst gab es eine Offensive gegen eine kurdisch kontrollierte Region. Von Ankara unterstützte pro-türkische Einheiten haben dabei nach eigenen Angaben die Stadt Manbidsch eingenommen.
Die Türkei wolle „eine volle Autonomie der Kurden in Syrien verhindern“, sagt Hans-Jakob Schindler. „Es geht aber auch darum, dass die Kurden einen großen Teil der Ölvorkommen in Syrien unter ihrer Kontrolle haben.“ Der Wettbewerb um die Kontrolle von Rohstoffen biete „definitiv Konfliktpotenzial“. Sollten die Kurden damit beschäftigt sein, ihre Gebiete zu sichern, bestehe die Gefahr, dass die ISIS-Kämpfer nicht mehr ausreichend bewacht würden. „Und dann könnte ISIS sich neu formieren und zurückkehren. Mit allen negativen Konsequenzen auch für Europa und Deutschland“, warnt Schindler.
Über Jahre schien es ruhig um den IS geworden zu sein. Spätestens seit Bekanntwerden von Anschlagsplänen im Jahr 2023 und tatsächlichen Anschlägen wie in Solingen aber ist klar, dass Ableger – vor allem der IS Provinz Khorasan in Afghanistan (ISPK) – Europa als Ziel klar im Fokus haben.
PETER SIEBEN