Die Welle riss alles mit. Dieses Foto entstand in Phuket. © Picture Alliance
An einem Baum in Khao Lak hängen Fotos von vermissten Menschen. Auch ein Bayer wurde noch nicht gefunden. © privat
Das Ertrinken wurde ihr Lebensthema: Monika Keck zu Hause mit einer Schwimmboje. © Hans-Helmut Herold
Als die Tsunami-Welle sichtbar wird, rennen Touristen am Strand von Railay um ihr Leben – für viele wird es zu spät sein. Eine Privataufnahme kurz vor der Katastrophe. © Getty Images
29. Dezember 2004: Ein Thailänder betet am Strand für die Seele seiner Schwester, die ins Meer geschwemmt wurde. © David Longstreath/Picture Alliance
Peißenberg – Monika Keck steht im Paradies und spürt, wie ihr die Tränen übers Gesicht laufen. Der Strand ist traumhaft schön, das Meer schimmert türkisblau in der Sonne, Kinder lachen. Doch Monika Keck sieht und hört etwas anderes. Sie erlebt gerade noch mal den schlimmsten Tag ihres Lebens. Da ist wieder das Rauschen, das immer lauter und bedrohlicher wird. Fische zappeln am Strand, dort, wo eigentlich der Ozean sein müsste. Und sie hört wieder die Schreie der Thailänder. Ihre Sprache spricht sie nicht, versteht aber trotzdem, was sie ihr zubrüllen: „Lauf!“ Für Monika Keck ist gerade noch einmal der 26. Dezember 2004. Der Tag, an dem eine 1000 Kilometer lange Tsunami-Welle ganze Küsten Asiens ausradierte.
Keck hat 15 Jahre gebraucht, um zurückzukehren. Sie hat den Tsunami in Thailand unverletzt überlebt – aber seitdem mit den Bildern gekämpft, die sie damals gesehen hat. Erst jetzt ist sie so weit, sich dem Ort noch einmal zu stellen. Sie steht wieder oben auf dem Berg, auf dem sie sich damals außer Atem vom Rennen das erste Mal umdrehte und sah, dass aus dem weißen Strich am Horizont eine gigantische Welle geworden war, die auf den Strand zudonnerte. Der Moment ist intensiv. Schmerz und Trauer lösen sich, werden zu Tränen – und dann zu Demut und Dankbarkeit, am Leben zu sein. Es fühlt sich an, als ob ein Druck tief in ihr endlich nachlässt. „In diesem Augenblick habe ich erst gemerkt, wie viel Kraft mich die vergangenen 15 Jahre gekostet haben.“
Kaum jemand wusste, was ein Tsunami überhaupt ist
Diesen Satz sagt Monika Keck heute, 20 Jahre nach dem Tsunami. Sie sitzt in ihrer Wohnung in Peißenberg im Landkreis Weilheim-Schongau. Die Sonne geht gerade hinter den Bergen unter und ein paar letzte Strahlen fallen auf das große Bild, das in ihrem Wohnzimmer hängt. Es zeigt den Traumstrand von Railay Beach, einer Halbinsel im Süden Thailands. Das Bild hat Keck erst vor einigen Monaten auf Leinwand drucken lassen. Heute kann sie wieder die Schönheit dieses Strandes sehen – so wie am 25. Dezember 2004, als sie dort mit einem Boot ankam.
„Ich dachte damals, dass ich noch nie einen so wunderschönen Strand gesehen habe“, erzählt sie. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Fotoapparat – dachte dann aber, sie würde das Bild auf dem Boot nur verwackeln. „Ich mach das Foto einfach morgen“, nahm sie sich vor. Doch am nächsten Tag war der Strand nicht mehr da.
Monika Keck und ihr damaliger Freund verdanken es vielen Zufällen, dass sie den Tsunami überlebt haben. „Wir hatten ein Bungalow auf der Ostseite der Halbinsel, oben auf einer Anhöhe“, erzählt sie. Bei ihrer Ankunft ärgerte sie sich ein bisschen darüber. Sie wäre so gern am Traumstrand auf der Westseite geblieben.
Unzählige Deutsche verbrachten 2004 genau wie Monika Keck ihren Weihnachtsurlaub in Thailand oder einem der anderen Länder im Indischen Ozean. Damals wusste noch kaum jemand, was ein Tsunami ist. Keck erinnert sich, dass die Tiere am Abend vorher seltsam laut waren. „Sie haben es gespürt“, sagt sie heute. Das Erdbeben unter dem Meeresboden des Indischen Ozeans war auch zu spüren. Monika Keck erinnert sich daran, dass das Bett etwas gewackelt hat. Sie und ihr Freund dachten sich nichts weiter dabei und schliefen noch mal ein.
Alles war etwas seltsam am nächsten Morgen. Vielleicht war es Intuition. Sie und ihr Freund waren nach dem Frühstück auf dem Weg zur Westküste der Halbinsel, als ihr eine innere Stimme sagte: Dreh um, hier stimmt etwas nicht. Auf dem Rückweg trafen sie auf eine Gruppe Thailänder, die das Meer beobachteten und sie plötzlich anschrien. Gemeinsam rannten sie weg vom Strand, auf einen Hügel hinauf.
Todesangst verlangsamt die Gedanken. „Ich weiß noch, dass ich nicht sicher war, ob wir das überleben“, erinnert sich Keck. Ganze Szenen fehlen ihr in ihrer Erinnerung. Sie kann nicht schätzen, wie lange sie gebraucht hat, um den Hügel hinaufzurennen. Aber sie wird nie die Szene vergessen, als sie oben auf der Wiese stand. „Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld.“ Überall verwundete Menschen, Schreie, Tränen, Panik. Monika Keck wurde plötzlich seltsam ruhig. Sie verteilte Schmerztabletten, die sie in ihrer Tasche hatte. Und als es wieder ein Handynetz gab, rief sie ihre Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie am Leben ist. „Ich habe gewusst, dass ich unter Schock stehe“, sagt sie. „Ich konnte nicht weinen, ich habe einfach funktioniert.“
Die Angst und der Schock blieben die nächsten Tage. Monika Keck und ihr Freund verließen die Halbinsel noch nicht. Sie wollten die Plätze in den wenigen Booten den Verletzten überlassen.
Überall Trümmer – und Menschen in Schockstarre
Aber in den nächsten Tagen sahen sie das ganze Ausmaß des Tsunamis. Die Reste von Ausflugsbooten, die von der Welle gegen die Felsen der Insel gedrückt und zertrümmert wurden. Schiffe, die bis ins Landesinnere gespült worden waren. „Als wären es Papierboote.“ Überall lagen Trümmer, dazwischen Bikinis, Sonnenbrillen – Überreste der Lebensfreude, die die Welle unbarmherzig weggespült hatte. Viele Läden der Insel wurden geplündert, überall stiegen Rauchsäulen auf, weil Trümmer verbrannt wurden. Und zwischen all dem Chaos saßen Menschen in Schockstarre. Einige dieser Szenen hat Monika Keck nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Bis heute nicht.
Den Rest der Reise erlebten sie und ihr Freund wie ferngesteuert. Im Norden des Landes lernten sie einen Mann kennen, der erfuhr, dass sie den Tsunami auf Railay überlebt haben. „You are lucky“, sagte er. Aber für Monika Keck fühlte es sich nicht an, als ob sie Glück gehabt hätte. „Ich hatte Schuldgefühle“, sagt sie heute. Über 230 000 Menschen sind bei dem Tsunami ums Leben gekommen. Warum hat sie überlebt? Sie konnte nicht aufhören, über diese Frage nachzudenken. Jahrelang nicht.
Zu Hause kamen die Albträume. Und die Panikattacken. Dafür reichte schon das Symbol einer Welle. Oder Wasserrauschen. Oder Weihnachtsmusik. „Es dauerte lange, bis ich verstand, dass ich ein Trauma hatte.“ Erst als sie ein Buch über Traumabewältigung las, merkte sie, dass sie Hilfe brauchte, um die Welle zu verarbeiten.
Anfang 2006 begann sie mit einer Traumatherapie. Sechs Jahre später begleitete sie ihre Mutter zu Hause im Sterben. Damals lernte Monika Keck die Hospizarbeit kennen. Sie absolvierte als Sozialpädagogin alle Palliativ-Fortbildungen und begann, in einem Hospiz zu arbeiten. Immer wieder hörte sie Sterbenden zu, die ihr berichteten, was sie im Leben so gerne noch gemacht hätten. Immer stärker spürte sie in sich die Frage, was sie selbst noch machen möchte. Und plötzlich war die Antwort da: Die größte Angst überwinden und noch einmal nach Thailand reisen. „Ich wusste, ich würde als anderer Mensch nach Hause zurückkommen.“
Monika Keck verdankt es ihrer Hospizarbeit, dass sie es geschafft hat, sich ihren Ängsten zu stellen. Als sie 2019 nach Railay Beach zurückkehrte, machte sie als Erstes das Foto von dem Traumstrand. Auch das hat sie durch den Tsunami gelernt: nichts mehr aufzuschieben. Railay war wieder so überwältigend schön, wie vor der Welle. Nur dass es jetzt asphaltierte Fluchtwege gab, auf die durch Schilder hingewiesen wurde. Und es gab Gedenkorte. Zum Beispiel einen Baum, auf dem Fotos von jungen Menschen angebracht waren, die seit dem Tsunami vermisst werden. Monika Keck stand lange nachdenklich und traurig davor. „Sie haben keine Stimme mehr“, sagt sie. „Sie können nicht von ihrem Überlebenskampf erzählen.“ Noch in Thailand begann sie damals, aus ihren Erinnerungen ein Buch zu machen. „Welle der Veränderung“ heißt es. Keck will den Tsunami-Opfern ihre Stimme geben. Und sie will Menschen, die mit Traumata kämpfen, Mut machen. Man kann es überwinden – das ist ihre Botschaft.
Zu ertrinken, das war jahrelang ihre größte Angst
Monika Keck ist heute 55. Sie hat gelernt anzunehmen, wie die Welle ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Früher arbeitete sie als Grafikerin. Heute ist sie Autorin, ausgebildete Trauma-Fachberaterin und Trauma-Pädagogin. Und das Ertrinken – jahrelang ihre größte Angst – ist ihr Lebensthema geworden. Keck hat eine Ausbildung zur Rettungsschwimmerin gemacht. In den vergangenen Jahren konnte sie einige Menschen vor dem Ertrinken retten. Und anderen helfen, ihre Panik vor Wasser zu überwinden. Sie nutzt jede Chance, um Werbung für Schwimmbojen zu machen. „Viele Leben könnten gerettet werden, wenn mehr Menschen sie beim Schwimmen im See dabeihätten“, sagt sie. Sie ist durch ihr Trauma gewachsen. „Heute kann ich das erkennen.“
Monika Keck weiß, dass der 20. Jahrestag des Tsunami am 26. Dezember für sie kein einfacher Tag werden wird. Vor Kurzem hat sie sich entschlossen, diesen Tag in Thailand zu verbringen. Sie hat dort vergangenes Jahr andere Überlebende kennengelernt. Sie hofft, dass Menschen aus der ganzen Welt zu der Gedenkveranstaltung kommen werden. „Und dass wir uns gegenseitig stützen und ermutigen können.“ Die Peißenbergerin weiß, dass auch nach 20 Jahren noch viele Tsunami-Überlebende mit ihren Erinnerungen kämpfen. Sie selbst hat es vergangenes Jahr geschafft, in der Bucht von Railay zu schwimmen – voller Lebensfreude. Auf ihren Hals hat sie sich drei Worte tätowieren lassen: You are lucky. „Ich habe aufgehört, mich immer wieder zu fragen, warum ich überlebt habe“, sagt sie. „Ich kann es jetzt mit Dankbarkeit als Glück empfinden.“