Von guten Mächten wunderbar geborgen

von Redaktion

Vor 80 Jahren entstand Dietrich Bonhoeffers berühmter Text – er ist noch immer ein Leitbild

Für politische Zwecke vereinnahmt: Demonstranten zeigen bei einer Kundgebung zum Israel-Konflikt im August in Chicago in den USA ein Plakat mit dem Konterfei von Dietrich Bonhoeffer. © pa

Dietrich Bonhoeffer in einer Aufnahme aus den 1930er-Jahren. Auch sein Bruder Klaus und seine Schwäger Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher waren im Widerstand und wurden 1945 kurz vor Kriegsende hingerichtet. © dpa

München – Viele Menschen kennen gar nicht den Hintergrund und sind trotzdem von den Worten ergriffen. Das Gedicht des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) von den „guten Mächten“ wird vielfach in Traueranzeigen zitiert und als ökumenischer Lied-Klassiker längst nicht nur in der Weihnachtszeit gesungen.

Es ist das letzte erhaltene Dokument des vielleicht bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Und es ist eine Art geistliches Vermächtnis, von mehr als siebzig Komponisten vertont. Der Schluss des Briefes an seine Verlobte Maria von Wedemeyer, geschrieben am 19. Dezember 1944, ist ein Gebet, das schon vielen Menschen Trost spendete inmitten der Ungewissheiten des Lebens.

80 Jahre ist es her, dass er – einer der Verschwörer des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler – im Gefängnis sitzt und diese Zeilen verfasst. Wenige Monate später, am 9. April 1945, wird der 39-Jährige mit anderen Gefangenen im Konzentrationslager Flossenbürg durch den Strang hingerichtet.

17 Bände umfasst sein Gesamtwerk mit wissenschaftlichen Arbeiten, Essays, Tagebüchern, Predigten. Auch ein Theaterstück ist dabei. „Von guten Mächten“ gehört zu einem Zyklus von zehn Gedichten bzw. gedichtähnlichen Meditationen, die allesamt im Gefängnis entstanden sind – zwischen Juni und Dezember 1944. Freund und Kollege Eberhard Bethge, Herausgeber der Werke Bonhoeffers, ist sicher, dass dieser früher keine Gedichte geschrieben hat. Er ist Seelsorger und Prediger – Wissenschaftler, der sein theologisches Denken im universitären und gesellschaftlichen Diskurs behaupten muss. Die Dichtkunst zielt ja nicht auf den Diskurs, auf den Austausch von Argumenten, gar auf den Streit um der Sache willen. Die Poesie verdichtet Worte zu Gedanken in einer neuen Sprache. Die Konzentration des Textvolumens führt bei Bonhoeffer auch zu einem sparsamen Gebrauch von (theologischen) Begriffen – oder sogar zum Verzicht. „Gott“ kommt in den sieben Strophen ein Mal vor, „Glaube“ als Begriff sucht man vergeblich.

Wieso es zu dieser Entwicklung bei ihm kam, darüber gibt es keine Hinweise. Weder von Bonhoeffer selbst noch aus der Erforschung seines Werkes. In jedem Fall ist es ein neuer, geradezu modern anmutender Versuch, von Gott zu sprechen. Er trifft – für seine Zeit – eine ungewöhnliche Wortwahl. Seine Übersetzungsbemühungen, verständlich vom Glauben zu reden, geben ihm recht. Ob jemand an Gott glaubt oder nicht, Bonhoeffers Lied leiht Menschen Worte für das, was sie in ihrem Innersten erhoffen: Kraft und Trost und Zuversicht zu finden inmitten der Irrungen und Wirrungen des eigenen Lebens, aber auch in den Unsicherheiten gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Entwicklungen.

Früh erkennt er den Ungeist der Nazis

Bonhoeffer schreibt diese Verse im Kerker. Am 8. Oktober 1944 wurde er in das Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in die Berliner Prinz-Albrecht-Straße verlegt. Das heute als „Topographie des Terrors” bekannte Gelände war der zentrale Ort, an dem die meisten Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes geplant und gesteuert wurden.

Die „guten Mächte“, von denen er spricht, sind die Klammer, die das Lied zusammenhalten und den Bogen von der ersten bis zur siebten Strophe spannen: „treu und still umgeben“ sie ihn – so, als wären sie ganz selbstverständlich da. Ein Wort kommt – wie die guten Mächte – zwei Mal in dem Lied vor, der ersten und letzten Strophe: „wunderbar“. Nichts könnte seine Gefühlswelt treffender beschreiben, als dass er sich behütet, getröstet, geborgen fühlt. Kein Jammern, kein Hadern, kein Klagen.

Und dann der grandiose Schluss: „Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Man muss das wörtlich nehmen, als persönliche Glaubenserfahrung. Gott ist da – das ist die Quintessenz seiner Theologie. Auf einen Nenner gebracht, lässt sich mehr und anderes nicht sagen.

Bonhoeffers Wirken hat nicht nur eine spirituelle Dimension. Früh erkennt er den Ungeist des Nationalsozialismus und prägt Sätze, die auch und gerade heute in der evangelischen Kirche Leitbildcharakter haben. Und erklären, warum sie sich bei gesellschaftspolitischen Themen zu Wort meldet: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Oder: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“

Ungewolltes Idol für radikale Kräfte

Umso überraschender ist es, dass neben der Weiße-Rose-Widerstandskämpferin Sophie Scholl (1921–1943) inzwischen auch Dietrich Bonhoeffer für politische Zwecke von Querdenkern und Anhängern von Verschwörungsmythen bis hinein in rechtsextreme Kreise missbraucht wird. In den USA ist diese Vereinnahmung schon länger zu beobachten.

Anlässlich der Präsidentschaftswahl in den USA wandten sich noch im Oktober deutsche und amerikanische Theologinnen und Theologen in einem offenen Brief dagegen, dass Bonhoeffer zum Idol gewaltbereiter Unterstützer von Donald Trump gemacht wird. Beklagt werden historisch falsche Gleichsetzungen zwischen unserer Gegenwart und dem totalitären NS-Regime. Demnach setzen christliche Nationalisten in den USA ihre politischen Gegner mit Nazi-Verbrechern gleich und stellen ihre eigenen militanten Aktionen auf eine Stufe mit dem Widerstand gegen die nationalsozialistische Schreckensherrschaft.

Ein Buch und ein Film sorgen für Kritik

Im Mittelpunkt der Kritik steht vor allem der amerikanische Autor Eric Metaxas, Verfasser einer populären, aber fehlerhaften Biografie, die in Deutschland unter dem Titel „Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet“ viel Aufmerksamkeit erlangte. Die SCM-Verlagsgruppe (Witten/Holzgerlingen) hat sich jetzt von Metaxas distanziert und sein Bonhoeffer-Buch aus dem Programm genommen. Metaxas‘ Biografie ist übrigens die Vorlage eines Spielfilms, der gerade in den USA in die Kinos gekommen ist – mit prominenten deutschen Schauspielern wie Jonas Dassler, Moritz Bleibtreu und August Diehl. Jordan Harmon, Präsident der Produktionsfirma Angel Studios, wirbt mit den Worten: „Es gab noch nie eine Zeit in der Geschichte, in der wir mehr an das Leben von Dietrich Bonhoeffer erinnert werden mussten, als heute.“ Nachfahren des Theologen betonen demgegenüber: „Niemals hätte er sich in der Nähe rechtsextremer, gewalttätiger Bewegungen gesehen, die heute versuchen, ihn zu vereinnahmen. Im Gegenteil, er hätte genau diese Haltungen kritisiert.“

Unser Gast-Autor

Udo Hahn (62) ist Pfarrer, Publizist und Direktor der Evangelischen Akademie in Tutzing. Er ist Autor und Herausgeber religiöser Sachbücher und spiritueller Texte. Im Verlag Butzon & Bercker ist von ihm der Band „Dietrich Bonhoeffer – Von guten Mächten wunderbar geborgen“ (124 Seiten, 11,95 Euro) erschienen.

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