Marion Becker hat sich immer gefragt, wer ihr die blauen Augen vererbt hat. Bis sie ihre Halbgeschwister fand. © Marcus Schlaf
München – Marion Becker* steht einer völlig Fremden gegenüber – und blickt in große, hellblaue Augen, die aussehen wie ihre eigenen. Die beiden lächeln sich mit einem identischen Lächeln an. Es ist der Moment, in dem die 33-Jährige ganz sicher weiß, dass sie ihre Halbschwester gefunden hat. Gerade öffnet sich eine Tür zu einem Teil ihrer Identität, von der dem sie drei Jahrzehnte lang nichts gewusst hatte. Die vergangenen zwei Jahre hat sie nach ihrem biologischen Vater gesucht – und nun eine Schwester gefunden.
An einem Dezembernachmittag im Jahr 2022 erfährt sie durch einen Zufall, dass der Mann, den sie für ihren Vater gehalten hat, nicht mit ihr verwandt ist. Ihre Eltern haben beide aus ihren früheren Ehen je eine Tochter mitgebracht. Marion Becker denkt also drei Jahrzehnte lang, dass sie mit zwei Halbschwestern aufwächst. Zu ihrem Vater hat sie kein gutes Verhältnis. Er ist oft aggressiv, verliert schnell die Kontrolle. Als Marion zehn ist, trennen sich ihre Eltern. Doch sie und ihre vermeintliche Halbschwester Melli besuchen den Vater regelmäßig. Aus Pflichtgefühl. „Wir sind immer wieder aneinandergerasselt“, erzählt Marion rückblickend. Sie ist impulsiv – und fürchtet oft, dass ihr Vater ihr seine aufbrausende Art vererbt hat. Bis zu diesem Tag, als sie mit Melli in einem Café sitzt und die sagt: „Schon komisch, dass wir ihn noch so oft besucht haben, obwohl er gar nicht unser echter Vater ist.“ Der Satz wirbelt Marions komplettes Leben durcheinander.
Melli hatte erst kurz zuvor von ihrer leiblichen Mutter erfahren, dass sie aus einer Samenspende entstanden ist, weil ihr vermeintlicher Vater zeugungsunfähig ist. Und sie denkt, Marion wisse das inzwischen auch. Weiß sie aber nicht. Als Marion Becker das erfährt, konfrontiert sie ihre Mutter damit – die weicht ihr immer wieder aus. Aber die 33-Jährige bleibt beharrlich. Bis sie endlich die Wahrheit erfährt: dass auch sie von einem Spender stammt. „Es hat sich angefühlt, als ob eine Last von mir abfällt“, sagt sie heute, knapp zwei Jahre später. Trotzdem braucht sie Zeit, das alles zu verarbeiten. Sie ist wütend auf ihre Mutter, weil die sie Jahre lang einen Mann besuchen ließ, zu dem sie eigentlich keinen Kontakt haben wollte. Es dauert Monate, bis es Mutter und Tochter gelingt, wieder zueinander zu finden.
Doch zur Ruhe kommt Marion Becker auch danach nicht. Sie muss wissen, wer ihr Vater ist. Und beginnt ihn zu suchen. Am Anfang hat sie: nichts. Ihre Mutter kann sich nicht mehr erinnern, wie der Münchner Arzt hieß, den sie damals aufgesucht hatte. „Irgendwas mit B oder P.“ Die Praxis war in einem Einfamilienhaus. Das sind alle Hinweise, die Marion Becker bekommt – für andere zu wenig, um überhaupt anzufangen mit der Suche. Sie macht das Gegenteil: Sie beißt sich richtig rein. Zuerst registriert sie sich bei Ancestry und MyHeritage – beides sind Ahnenforschungs-Plattformen, bei denen anhand von Genproben verwandtschaftliche Beziehungen auf der ganzen Welt aufgespürt werden können. Sie überredet auch ihre Mutter zu einem DNA-Test. Doch es kann bis zu vier Monate dauern, bis die Auswertung vorliegt. Solange will Marion Becker nicht warten.
Die Suche nach ihrem Vater wird zur Suche nach sich selbst
Sie nimmt Kontakt auf mit einem Spendenkinderverein. Dort ist immer wieder von zwei Münchner Ärzten die Rede. Beide Namen kommen ihrer Mutter bekannt vor. Mit beiden nimmt Marion Becker Kontakt auf. Obwohl die Ärzte mittlerweile im Rentenalter sind. Einer von beiden war ärztlicher Leiter der Cryobank München. Marion Becker kann seine Tochter, die die Praxis übernommen hat, überreden, für sie alte Akten durchzusehen. Doch dort findet sich kein Hinweis. Sie findet ein Archiv, in dem alte Telefonbücher einsehbar sind. Damit erstellt sie eine Liste aller Gynäkologen, die 1990 in München Praxen hatten. Dann schaut sie sich über Google Maps die Adressen an, um herauszufinden, ob es sich um Einfamilienhäuser handelt – das war die einzige Erinnerung ihrer Mutter.
In ihre Suche nach der Praxis platzt endlich das Ergebnis des DNA-Tests. Sowohl auf Ancestry als auch bei MyHeritage gibt es einen Treffer: eine Halbschwester. Tina. Marion Becker schreibt sie an, versucht sie über Soziale Netzwerke zu kontaktieren – aber Tina antwortet nicht. Marion findet heraus, dass sie als Ärztin in einem Krankenhaus in Zürich arbeitet. Sie nimmt ihren Mut zusammen und ruft sie dort an. „Es könnte sein, dass wir Halbgeschwister sind“, sagt sie vorsichtig. Die beiden haben sofort einen Draht zueinander, sie telefonieren noch am selben Abend lange.
Tina wusste von ihren Eltern, dass sie durch eine Samenspende gezeugt wurde. Auch sie sucht nach ihrem biologischen Vater. Die beiden sind im selben Jahr geboren. Marion im April, Tina im Dezember. Zwei Wochen später stehen sie sich in München das erste Mal gegenüber – und haben keinen Zweifel mehr, dass sie verwandt sind. Sie sehen sich so ähnlich wie Zwillinge.
Tina weiß von ihrer Mutter, in welcher Praxis sie gezeugt wurde. Marion fährt zu der Adresse – ein Einfamilienhaus. Es ist ein mächtiges Gefühl, als sie plötzlich vor dem ockergelben Gebäude steht, in dem sie gezeugt wurde. Die Praxis gibt es nicht mehr, auch keine Unterlagen. Damals wurden die Väter noch nicht in ein Spender-Register eingetragen, das änderte sich erst 2018 durch eine Gesetzesänderung.
Marion Becker stellt sich vor, wie ihr Vater damals vor 34 Jahren in das Haus gegangen ist. Es ist das erste Mal, dass sie eine echte Spur zu ihm hat. Sie kann jetzt nicht mehr aufhören, weiterzuforschen. „Für mich ist das auch eine Suche nach mir selbst“, sagt sie. Sie will wissen, von wem sie ihre Charaktereigenschaften hat. Und ihre blauen Augen, die in ihrer Familie niemand außer ihr besitzt.
Ihre Halbschwester Tina ist mit ihrer Suche schon einen Schritt weiter als Marion. Sie hat über die Ahnenforschungs-Plattformen einen Halbbruder gefunden. Sie haben einen Namen – aber einen, den es hundertfach gibt: Michael Meier. Das macht die Suche fast unmöglich. Marion Becker tut, was sie immer tut: Sie probiert es trotzdem. Schreibt einige Michael Meiers an, die im richtigen Alter sind. Aber der richtige ist nicht dabei.
Und dann, an einem Nachmittag, klingelt plötzlich ihr Handy und ihr Halbbruder Michael ist am Telefon. Er hat sich seit langem wieder bei der Ahnenforschungsseite eingeloggt und Marions Nachricht entdeckt. Sie vereinbaren ein Treffen. Auch Tina soll dabei sein und Michaels Zwillingsbruder Thomas. Schnell spüren die Vier, wie ähnlich sie sich sind. „Es hat sich angefühlt wie heimkommen“, sagt Marion Becker danach. „Endlich habe ich Menschen gefunden, die wie ich denken und fühlen.“ In jedem ihrer Halbgeschwister erkennt sie Eigenschaften von sich selbst wieder.
Nur wer ihr biologischer Vater ist, wissen sie immer noch nicht. Marion Becker kontaktiert den DNA-Detektiv Alexander Alberts-Dakash aus Hannover und bittet ihn um Hilfe. Er ist Profi, hat mehr Erfahrung und Recherchewege. Durch die Gentests der vier Halbgeschwister findet er einen Cousin dritten Grades – und dann die Großmutter. Sie hatte zwei Söhne, einer studierte in den 90ern in München. Alexander Alberts-Dakash findet den Namen raus. Die Daten gibt er nicht weiter, aber er kontaktiert den Mann im Auftrag von Marion Becker. Doch der reagiert nicht.
Sie schreibt ihrem Vater einen Brief – er reagiert nicht
Marion findet den Namen mit den wenigen Hinweisen, die sie hat, schließlich selbst heraus. Gemeinsam mit Tina schreibt sie dem Mann einen Brief. Die beiden sagen ihm, dass sie keine Ansprüche stellen wollen, sondern nur wissen möchten, von wem sie abstammen. Sie legen Fotos von sich mit in den Umschlag. Seit sie den Brief abgeschickt haben, sind vier Monate vergangen. Es kam keine Antwort.
Noch hat Marion Becker die Hoffnung nicht aufgegeben. „Ich brauche keine Vater-Figur mehr in meinem Leben“, sagt sie. „Ich möchte ihm nur einmal in die Augen schauen. Ich möchte wissen, von wem ich abstamme.“ Es ist schwer für sie, jetzt einfach nur abzuwarten. „Aber ich will auch nichts kaputtmachen“, sagt sie.
Mit ihren drei Halbgeschwistern trifft sich die 33-Jährige regelmäßig, obwohl Tina in Zürich lebt und Michael und Thomas in der Nähe von Augsburg. Sie haben eine enge Verbindung zueinander aufgebaut. Marion Becker ist dankbar. Sie hat eine zweite Familie gefunden, von der sie ihr ganzes Leben lang nichts gewusst hat. Und einen Teil ihrer Identität, der ihr geholfen hat, sich selbst besser zu verstehen. Nur ein letztes und sehr wichtiges Puzzleteil fehlt ihr noch. Manchmal fragt sie sich, ob ihr Vater den Brief gelesen hat. Mit welchen Gefühlen er kämpfen muss. Ob er irgendwann doch bereit ist, sie kennenzulernen – auch wenn es nur für ein einziges Treffen ist. Es gab so viele Tage, an denen sie kaum Hoffnung hatte, dass es ihr gelingt, ihn ausfindig zu machen. Nun kann sie nur noch abwarten – und hoffen, dass er auch wissen möchte, wer seine Tochter ist.
*ALLE NAMEN GEÄNDERT