„André hatte keinem was getan“

von Redaktion

André aus der Oberpfalz wurde nur neun Jahre alt. Seine Mutter trauerte auf Facebook in sehr emotionalen Worten.

Magdeburg – Als am Freitagabend gegen 19.02 Uhr der saudische Assitenzarzt Taleb A. (50) in seinem gemieteten BMW X3 in den Alten Markt einbog, war Andrés Mama mit zwei ihrer fünf Kinder gerade in der überfüllten Budengasse unterwegs. Erst vor wenigen Monaten war sie aus Bayern Richtung Niedersachsen gezogen, der Vater blieb in Floß. Nur drei Minuten dauerte die verheerende Fahrt, mit der sich der offenbar psychisch kranke Täter für den Umgang Deutschlands mit saudischen Flüchtlingen rächen wollte. Am Ende waren fünf Menschen tot. Dass einer von ihnen der Flosser Ministrant André war, sprach sich noch am selben Abend wie ein Lauffeuer in der 3450-Einwohner-Gemeinde herum.

Bürgermeister Roland Lindner (61, SPD) kannte die Familie gut: „Das waren angesehene Leute, alle waren gut im Ort integriert.“ Das Geschehene sei furchtbar tragisch, es herrsche gedrückte Stimmung. Lindner sagte zu unserer Zeitung: „Magdeburg ist ja schon weit von uns weg, aber bei solchen Ereignissen merkt man dann doch, wie nah dran man ist, wenn solche Idioten oder Extremisten meinen, Rache üben zu müssen.“

Am Samstagabend war der Todesfall auch Thema im Gottesdienst. Währenddessen verabschiedete sich Andrés Mama in einem hunderttausendfach geteilten Beitrag auf Facebook herzzerreißend von ihrem Schatz: „Lasst meinen kleinen Teddybär nochmal um die Welt fliegen … André hatte keinem was getan.“ Am 29. Mai 2015 hatte sie ihren jüngsten Sohn in Weiden in der Oberpfalz zur Welt gebracht. „Nun bist du bei Oma und Opa im Himmel. Sie haben dich sehr vermisst … so sehr wie wir dich nun hier vermissen.“

Kommentare von Bekannten und Schulfreunden unter dem Facebook-Beitrag spenden der leidenden Mutter Trost: „Es ist unfassbar. Marleen sagte: Warum er, Mama? Wir haben doch so toll mit unseren Kuscheltieren auf dem Balkon in der Kur gespielt.“ Eine Freundin schrieb: „Es ist unbegreiflich. André war für jeden nur ein kleiner Engel. Er hat in seinem kurzen Leben so viele Menschen bereichert mit seiner freundlichen Art und soviel Lebenslust.“ In Gottesdiensten haben die Bürger in Floß gestern des Jungen gedacht.

Fürchterliche Szenen hatten sich am Freitagabend auf dem Platz vor dem Magdeburger Dom abgespielt, wo die Menschen vier Tage vor Weihnachten die adventliche Atmosphäre bei Glühwein und Weihnachtsliedern genießen wollten. Um 19.02 Uhr war der Tatverdächtige nach Polizeiangaben erst langsam in einen Flucht- und Rettungsweg in Richtung Alter Markt eingefahren, wo sich der Weihnachtmarkt befand. Zur gleichen Zeit ging im Lagezentrum der Polizei der erste Notruf ein. Der Amokfahrer erhöhte das Tempo und verletzte die ersten Passanten. Dann bog er ab, fuhr weiter Richtung Rathaus, machte einen Schlenker, gab dann richtig Gas und raste „mindestens 400 Meter über den Weihnachtsmarkt“. Letztlich stand er wieder an der Kreuzung, wo der Anschlag begann. Dort wurde er von Beamten gestoppt und festgenommen.

Der Direktor der Polizeidirektion Magdeburg, Tom-Oliver Langhans, sprach von einem „Zeitfenster von rund drei Minuten“. Bei dem Tatfahrzeug soll es sich um einen Leihwagen mit Münchner Kennzeichen gehandelt haben. Der Attentäter, ein Psychiater aus Saudi-Arabien, soll nach unbestätigten Berichten unter Drogen gestanden haben. Die deutschlandweit üblich gewordenen Poller als Schutz vor Amokfahrten fehlten an der von ihm gewählten Zufahrt. Die Stadt begründete dies damit, dass der Weg als Rettungsgasse für Krankenwagen und Feuerwehren vorgesehen war.

Neben dem kleinen André kamen noch vier Frauen im Alter von 45, 52, 67 und 75 Jahren ums Leben. Mehr als 200 Besucher des Weihnachtsmarkts wurden verletzt, viele nach Aussagen von Rainer Haseloff (CDU), des erschütterten Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, der noch am Abend an den Tatort geeilt war, wurden „schwerst- und schwerverletzt“. Notfallseelsorgerin Corinna Pagels war in der Tatnacht im Einsatz. Ein Bild lässt sie nicht mehr los: „Da lag eine tote Frau. Ihr trauernder Ehemann lag über ihr und wollte einfach nicht mehr aufstehen und seine Frau loslassen.“ Ihre Kollegin berichtet von einem verletzten Kind, das laut vor Schmerzen und Angst schreiend neben seiner verletzten Mutter lag.

„Was für eine furchtbare Tat ist das, Menschen an solch einem Ort so zu brutal zu verletzen?“, zeigte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Tag nach der Tragödie fassungslos. „Wenn so ein schlimmes, furchtbares Ereignis geschieht, dann müssen wir als Land zusammenhalten, dass nicht der Hass uns bestimmt.“ Zusammen mit Innenministerin Nancy Faser (SPD) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) war er nach Magdeburg gekommen. Auch CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz war angereist, um seine Betroffenheit zu zeigen.

Sie alle nahmen am Samstagabend an einer Trauerfeier im Dom teil. Der Magdeburger katholische Bischof Gerhard Feige hatte die Trauer, Wut und Fassungslosigkeit der Menschen zum Ausdruck gebracht. „Gemeinsam sind wir hier, um uns gegenseitig Halt zu geben, um auszuhalten, was nicht zu begreifen ist“, sagte Feige. Und wie zum Beweis für den Zusammenhalt hatten sich Hunderte Menschen vor dem Dom versammelt, um bei Kälte und Regen die Trauerfeier zu verfolgen. Über das Weihnachtsfest in Magdeburg hat sich ein dunkler Schatten gelegt.

Auf die Frage, ob man nach dem Anschlag noch „O du fröhliche“ im Weihnachtsgottesdienst anstimmen könne, antwortete der evangelische Landesbischof von Mitteldeutschland, Friedrich Kramer: „Ich denke, dass das an vielen Stellen nicht getan wird. Wir haben einen reichen Liederschatz. Wir müssen nicht ‚O du fröhliche‘ singen, wenn einem nicht danach zumute ist.“ Kramer fügte hinzu, es sei wichtig, mit seinem Schmerz nicht allein zu bleiben. Man solle die Gemeinschaft suchen. Das gelte gerade für die Ersthelfer. „Denn was die Helfer da auf dem Weihnachtsmarkt erlebt haben, das war für viele das Schlimmste, was sie im Leben bisher gesehen haben. Diese Bilder hast du im Kopf.“

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