Die verrückte Geschichte von „Stille Nacht“

von Redaktion

Ludwig Rainer trat in ganz Europa, Amerika und Kleinasien auf. Das Foto zeigt ihn in Russland. © Archiv

Die Väter: Josef Mohr (li.) und Franz Xaver Gruber auf einer Bildpostkarte von 1918 zum 100-Jährigen des Liedes. © pa

Eine handgeschriebene Partitur des Lieds „Stille Nacht“ von Kirchenmusiker und Komponist Franz Xaver Gruber. © pa

Bairische Kultur auf Britisch: Die Geschwister Rainer auf einer Lithographie von 1827 mit neuer Tracht und neuen Ranzen – spendiert von Englands König George IV. © Archiv/gedruckt von Vowels Cornhill

München – Die Geschichte nimmt 1818 ihren Anfang. Ein gewisser Josef Mohr ist zu diesem Zeitpunkt Hilfspfarrer in Oberndorf, einem kleinen Ort in der Nähe von Salzburg. Dort lernt er Franz Xaver Gruber kennen, der als Lehrer und Organist tätig ist. Die beiden jungen Männer verbindet die Liebe zur Musik. Am Weihnachtstag bittet Mohr den Organisten deshalb kurzerhand um die Vertonung seines Weihnachtsgedichts „Stille Nacht“ – oft wird erzählt, dass die marode Kirchenorgel die musikalische Gestaltung der Christmette unmöglich machte.

Pfarrer Mohr hatte den Text bereits 1816 geschrieben, noch während seiner ersten Anstellung im nahe gelegenen Mariapfarr. Der Liedtext entstand damals vor dem Hintergrund großer Not, denn kurz nach den napoleonischen Kriegen war in Indonesien der Vulkan Tambora ausgebrochen. Das hatte unerwartete Kälteeinbrüche zur Folge – auch in Europa. Das daraus resultierende „Jahr ohne Sommer“ führte durch zahlreiche Ernteausfälle schließlich zur schlimmsten Hungersnot des 19. Jahrhunderts. Mit seinem Weihnachtsgedicht wollte Mohr seiner Gemeinde Hoffnung schenken.

Uraufführung mit der verpönten Wirtshaus-Gitarre

In nur wenigen Stunden schreibt Franz Xaver Gruber am Weihnachtsmorgen eine Melodie zum Text. Die Uraufführung findet dann allerdings nicht in der Kirche, sondern draußen bei der Krippen-Andacht statt. Nur so kann Pfarrer Mohr das Lied auf der Gitarre begleiten. Als verpöntes Instrument – die Gitarre wurde üblicherweise nur in Wirtshäusern gespielt – wäre eine Aufführung in der Kirche zu dieser Zeit undenkbar gewesen.

Schnell erfreut sich das Weihnachtslied in Oberndorf großer Beliebtheit. Doch damit nicht genug: Wie es der Zufall will, ist kurze Zeit später der bekannte Orgelbauer Carl Mauracher vor Ort, wohl um die unspielbare Orgel zu reparieren. Überlieferungen zufolge bringt er eine Abschrift des Liedes mit in seine Tiroler Heimat – nach Fügen im Zillertal. Bereits ein Jahr nach der Uraufführung soll es dort bei der Christmette gesungen worden sein. Schnell verbreitet es sich so in der Region und wird gerne zu feierlichen und weihnachtlichen Anlässen gesungen.

Einen wesentlichen Anteil haben dabei die sogenannten „Rainer-Sänger“ – Felix, Anton, Josef, Franz und Maria Rainer. Die Familie ist Teil des Kirchenchors in Fügen und für ihr musikalisches Talent bekannt. Bald gehört auch „Stille Nacht“ zu ihrem Repertoire. Als der russische Zar 1822 auf dem Weg nach Verona einen Zwischenstopp in Schloss Fügen einlegt, soll die Sängergruppe das Weihnachtslied sogar vor dem Monarchen selbst gesungen haben: „Da sie sich der Aufregung nicht gewachsen fühlten, sangen sie hinter einem Vorhang. Dem Zaren hat die Darbietung so gut gefallen, dass er die Sänger zu sich nach Russland eingeladen hat“, erzählt Peter Mader, Kurator des Heimatmuseums Fügen.

1825 will die Familie schließlich die Reise nach Russland antreten. Auf dem Weg in den Norden findet ihr Gesang jedoch nicht immer Anklang: „In Freising wurden die Tiroler Sänger sogar verjagt – das Verhältnis zu Bayern war nach dem Tiroler Aufstand 1809 immer noch angespannt“, berichtet Mader. Also verlagern sie ihre Route nach Wien. Dort erfahren sie vom Tod des Zaren, weshalb sie die Rückreise über Teplitz im heutigen Tschechien antreten wollen.

Doch ihre Reise sollte noch nicht zu Ende sein: In dem beliebten Kurort hört sie ein enger Vertrauter des englischen Königs George IV., der sie kurzerhand nach Großbritannien mitnimmt. Nach mehreren Stationen in Deutschland – darunter Weimar und Berlin, wo sie vor Goethe und dem preußischen Kronprinzen gesungen haben sollen – gelangen sie per Schiff nach London. Dort empfängt sie George IV. in Windsor Castle.

In England feiert das Lied den Durchbruch – in Fantasiekostümen

Auf seine Kosten lässt der König neue Kleider für die Tiroler Sänger anfertigen. Eine Lithographie aus dieser Zeit zeigt sie in den spendierten Fantasiekostümen, in denen sie fortan auftreten. Mader führt aus: „Die Tracht war aus feinstem Tuch und Hermelinpelzen gemacht. Für ihren Auftritt bekamen sie silberbestickte Ranzen, also Trachtengürtel, und Silberringe mit ihren Initialen“. In England wird „Stille Nacht“ zum ersten Mal aus dem Deutschen übersetzt. Heute gibt es das Lied in mehr als 250 Sprachen und Dialekten.

Nach dem großen Erfolg der Rainer-Sänger in England machen sich weitere Sängergruppen aus dem Zillertal auf den Weg, darunter die „Geschwister Strasser“ und die „Leo-Sänger“. Sie verbreiten „Stille Nacht“ in Deutschland und Skandinavien. 1833 wird das Weihnachtslied erstmals in Dresden in der Liedersammlung „Vier ächte Tyroler-Lieder“ gedruckt. „Durch den Beitrag der Zillertaler Sänger ist es nicht verwunderlich, dass das Weihnachtslied lange Zeit als Tiroler Volkslied galt – obwohl es unwiderlegbar aus Salzburg stammt“, erklärt Mader. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wandelt sich das Volkslied wieder zum Kirchenlied.

Europa, Amerika, Asien: Das Kirchenlied wird zum Welthit

Ludwig Rainer, ein Nachfahre der Rainer-Sänger, tritt schließlich in ganz Europa, Amerika und Kleinasien auf. 1839 erklingt „Stille Nacht“ etwa in der Trinity Church in New York. Auch zu Bayern hat der Tiroler ein besonderes Verhältnis: Oft verweilt er am Münchner Hof von Herzog Max, dem Vater der späteren Kaiserin „Sisi“. Zahlreiche Auftritte, darunter im Volksgarten, einem ehemaligen Vergnügungsetablissement in Neuhausen, und dem Gasthof Steinmetz in Tegernsee sind dokumentiert. Sein 50-jähriges Sängerjubiläum 1884 feiert Rainer ebenfalls in München. Sechs Jahre später stirbt er auf der Heimreise von München. Auf seinem Grabstein in Achenkirch ist zu lesen: „Ausgelitten, ausgerungen, viel gereist, viel gesungen.“ Dem Siegeszug von „Stille Nacht“ tat dies keinen Abbruch.

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