„Wir haben auf den Tod gewartet“

von Redaktion

Rettungskräfte ziehen einen Überlebenden aus dem Heck, das vom Flieger abbrach. © X

Die Absturzstelle: im Hintergrund das Kaspische Meer, das die Maschine noch überquern konnte, ehe sie abstürzte. © dpa

Augenzeugen filmten den Moment des Aufpralls. Der Rumpf fängt Feuer. © X

Die Ermittlungen zur Absturzursache laufen: Das Heck, in dem viele überlebten, ist mit kleinen Löchern übersät, wie sie typisch auch für Splitter von Flugabwehrraketen sind. © AFP

Einer von 29, die es geschafft haben: Ein Überlebender trifft auf einem Flughafen außerhalb von Baku in Aserbaidschan ein. © STRINGER/EPA

München/Baku – Der Horror steht ihr ins Gesicht geschrieben. Die Nase ist blutverkrustet, rechts davon klebt ein dicker Verband. „Als ich zur Besinnung kam, sah ich, dass mein Bein eingeklemmt war“, sagt Kristina. Die russische Reiseberaterin überlebte als eine von 29 Passagieren den Flugzeugabsturz in Kasachstan.

In einem Telegram-Video erzählt sie, wie sie den Albtraum erlebte. „Die Masken sind herausgefallen. An der Stewardess hat man gesehen, dass etwas passiert ist“, so Kristina. Das Flugzeug sei etwa eine Stunde gekreist. Die Flugbegleiterin habe dann vor einer harten Landung gewarnt, die Passagiere angewiesen, den Kopf zu senken. Dann krachte die Maschine zu Boden. Kristina erinnert sich an zwei Schläge. „Die rechte Seite, wo das Fenster war, wurde weggerissen. Der vordere Teil des Flugzeugs ist explodiert.“ Kristina verlor das Bewusstsein. Als sie wach wurde, konnte sie ihr Bein aus eigener Kraft herausziehen.

Auch Subhonkul Rahimow saß im Flug 8243. Auch er hat überlebt. Dem russischen Sender RT berichtet er von drei Versuchen des Piloten, die Maschine auf den Boden zu bringen. „Beim dritten Landeanflug ist etwas explodiert“, sagt er. „Ich würde nicht sagen, dass es im Inneren des Flugzeugs war“, erinnert sich Rahimow. „Dort, wo ich saß, wurde die Verkleidung neben mir weggerissen.“ Dann seien Splitter in die Flugzeugkabine eingedrungen.

Wie die letzten Minuten abgelaufen sind, zeigen auch Videos von Fluggästen, die auf Sozialen Netzwerken kursieren. Sauerstoffmasken baumeln in der Luft, ein Mann betet auf Arabisch, während eine Stewardess mit panischem Unterton eine Durchsage macht. Ein kurzer Schrei ist zu hören. Verzweifelte Blicke. Auf einem zweiten Video läuft der betende Mann von dem blauen Wrack weg und filmt erst sich und dann die Rettungskräfte, die Menschen bergen. Er hat offenbar überlebt.

Der Nachrichtendienst QHA verbreitete ein Video, das das Flugzeug noch in der Luft zeigt. In den hinteren Reihen sind herrenlose Rettungswesten zu sehen. Es herrscht komplette Stille in der Kabine, nur Fluggeräusche sind zu hören. Dann filmt der Passagier auf den linken Flügel – und dort sind eindeutig Schäden, ein abgebrochenes Teil am noch fliegenden Flugzeug, zu erkennen.

Der Überlebende Zaur Mamedov berichtet von einem Vorfall vor dem Absturz. „Es gab zwei Schläge, große Schläge auf das Flugzeug“, sagte er dem Sender RT. Danach sei Panik ausgebrochen. „Wir haben auf den Tod gewartet.“ Die Crew habe versucht, die Fluggäste zu beruhigen, versichert, dass alles gut werde. Bei der Bruchlandung zerriss das Flugzeug in zwei Teile. Mamedov saß im hinteren Teil, der etwa 100 bis 150 Meter weggeschleudert wurde, wie er schätzt. „Wer konnte, ist raus und half den anderen“, erinnert er sich.

Es sind Erinnerungsfetzen, Videofragmente, Teile eines Puzzles, das die Ermittler nun zusammensetzen müssen. Die Flugschreiber wurden geborgen – neutrale Zeugen, die vielleicht erhellen können, was sich am Mittwoch auf dem Flug von Aserbaidschan Airlines von Baku nach Grosny genau zugetragen hat.

Fluglinie: „Einwirkung von außen“

Klar scheint inzwischen, dass es kein technischer Defekt war, wie er in der Luftfahrt vorkommen kann. Aserbaidschan Airlines sprach am Freitag von einer „Einwirkung von außen“, und zwar „physisch und technisch“. Vogelschlag scheidet also aus. Die aserbaidschanische Regierung sprach erstmals öffentlich von einem Waffeneinsatz – und erwähnte dabei nicht, wer geschossen haben soll. Schäden am Wrack und Zeugenaussagen legten aber nahe, dass das Flugzeug von außen beschädigt worden sei.

Die USA konkretisierten hingegen ihren Verdacht: „Wir haben einige frühe Hinweise gesehen, die darauf hindeuten könnten, dass der Jet von einem russischen Flugabwehrsystem zum Absturz gebracht wurde“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby.

Neben der Absturzursache gibt es noch eine weitere dringende Frage zu klären. Nämlich die, warum das Flugzeug vom Typ Embraer 190 auf der Suche nach einer Landemöglichkeit über das Kaspische Meer fliegen musste. Der Flughafen in Grosny war nahe.

Bisher gibt es zwei Versionen. Die eine besagt, dass den Piloten die Notlandung untersagt wurde und sie über das Kaspische Meer flogen, um in Aktau in Kasachstan zu landen. Die andere, von russischer Seite, spricht von „Sicherheitsgründen“. „Die Situation im Bereich des Flughafens von Grosny war sehr kompliziert“, erklärte der Chef der russischen Luftfahrtbehörde Rosawiazija, Dmitri Jadrow. „Ukrainische Kampfdrohnen führten zu diesem Zeitpunkt terroristische Angriffe auf die zivile Infrastruktur in den Gebieten Grosny und Wladikawkas.“ Deshalb seien keine Starts und Landungen in der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien erlaubt gewesen. Auch habe dichter Nebel geherrscht. Laut Jadrow unternahm der Pilot erfolglos zwei Landeversuche und sei dann Richtung Kasachstan abgedreht. Zur Frage, ob die Maschine durch eine ukrainische Drohne oder den Einsatz einer russischen Flugabwehrrakete beschädigt wurde, sagte er nichts.

Bei den Passagieren handelte es sich um 27 Aserbaidschaner, 16 Russen, sechs Kasachen und drei Kirgisen. Zwei Überlebende haben nach Angaben des Auswärtigen Amts ihren Wohnsitz in Deutschland. Aserbaidschan hat nach dem Unglück seine Flugverbindungen in zehn russische Städte ausgesetzt. Metropolen wie Moskau oder St. Petersburg sind nicht betroffen.

Der Absturz weckt Erinnerungen an den Abschuss einer Boeing im Jahr 2014. Ein russisches Flugabwehrsystem vom Typ Buk schoss damals versehentlich über der Ostukraine eine Maschine der Malaysia Airlines auf dem Flug von Amsterdam nach Kuala Lumpur ab. Alle 289 Passagiere starben. Obwohl der Abschuss als bewiesen gilt – der Abschuss der Rakete aus russischem Gebiet ist eindeutig belegt –, bestreitet Russland jede Verantwortung für die Tragödie bis heute.
MIT DPA/AFP

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