Das Trentino streitet um seine Bären

von Redaktion

Per DNA-Test identifiziert: Die Bärin „JJ4“, genannt Gaia, die Andrea Papi tödlich verletzte. © Trento/PA

Andrea Papi überlebte das Zusammentreffen mit „JJ4“ nicht. Vermutlich sah die Bärin den Sportler als Bedrohung für ihre Jungen. © pa

Ein Wanderpfad in Dro. Hier in der Nähe wurde Vivien Triffaux von einer Bärin attackiert. Sie hatte ein Junges dabei, fühlte sich bedroht. © JMM

Vivien Triffaux überlebte den Bärenangriff. Er verhielt sich richtig und kam mit einem Biss in den Arm davon. © privat

Eigentlich menschenscheu, aber auch gefährlich: Ein Braunbär marschiert über eine Waldlichtung. © Michaela Walch/P. Alliance

Dro – Am Tatort geht es an diesem Tag ziemlich idyllisch zu. Fahrradfahrer überqueren die alte Römerbrücke in Dro. Im Sommer planscht hier die örtliche Jugend im Bach. Wanderer sind unterwegs, ein Olivenbaum spendet Schatten. Christian und Myriam aus Darmstadt und Berlin stehen auf der Brücke, sie sind zum Klettern ins Trentino nach Norditalien gekommen. Am Tag zuvor sicherte Myriam ihren Freund per Seil an einer Felswand, gleich hier um die Ecke. „Was mache ich jetzt, wenn ein Bär kommt?“, fragte sich die Touristin aus Deutschland. Ihr war kurz mulmig zumute. „Ich kann ja nicht einfach wegrennen, wenn Christian da oben im Seil hängt!“

Der Bär kam glücklicherweise nicht. Aber man kann Myriams Sorgen beim Kletterurlaub im Trentino nicht als übertriebene Angst oder Hysterie abtun. Mitte Juli vergangenen Jahres griff hier in der Nähe der Römerbrücke eine Braunbärin einen französischen Urlauber an. Der 43-Jährige war frühmorgens alleine unterwegs, wollte einen kleinen Pfad aufsteigen. „Da raste die Bärin auf mich zu“, berichtete Vivien Triffaux der örtlichen Zeitung. „Sie hatte ein Junges dabei, ich habe sofort gemerkt, dass sie aggressiv ist.“ Triffaux kauerte sich auf den Boden, versuchte Kopf und Hals zu schützen. Eigentlich das richtige Verhalten: nicht schnell weglaufen, keine ruckartigen Bewegungen, nicht schreien oder Gegenstände werfen. Das Tier griff trotzdem an.

„Die Bärin hat mich in den Arm gebissen und mir Kratzer zugefügt“, schilderte Triffaux. Er habe versucht, auf dem Boden wegzurollen, weg von den Jungtieren. Die Bärin habe sich erneut genähert, aber dann, als er aufstand, von ihm abgelassen. „Sie stand auf den Hinterbeinen, einen Meter von mir entfernt.“ Er habe dem Tier in die Augen geblickt, berichtete der Urlauber. „Ich versuchte ihr zu signalisieren, dass ich keine bösen Absichten habe.“ Dann verschwand die Bärenfamilie. Triffaux wurde per Hubschrauber ins Krankenhaus Trento transportiert. Sechs Tage lang wurde er behandelt.

Begegnungen wie diese gibt es immer häufiger im Trentino. Seit 2014 sind mehr als zehn Zusammentreffen von Bären und Menschen dokumentiert. Wie viele nicht angezeigte Fälle es gibt, ist unbekannt. Im Trentino, insbesondere in der Region um das Naturschutzgebiet Adamello-Brenta, leben rund 120 Braunbären, manche sprechen von 150 Exemplaren.

Ab 1999 wurden hier zehn Braunbären aus Slowenien in einem EU-Projekt wieder angesiedelt. Die Tiere vermehrten sich, sie wanderten. Exemplare wurden zuletzt auch in den Nachbarregionen Venetien und Lombardei gesichtet. 2006 hatte der „Problembär Bruno“ (alias JJ1) Bayern erreicht, er wurde im Kreis Miesbach erlegt. Im Internet kursieren Filme von Braunbären, wie sie nachts die umliegenden Dörfer des Trentino durchqueren. Drollig, aber eben auch gefährlich. Dro, Ort des letzten Zwischenfalls, liegt nur zehn Kilometer nördlich des Gardasees, einem der Lieblingsorte deutscher Touristen in Italien.

Vor allem die örtliche Bevölkerung ist alarmiert. Im Val di Sole etwa, einem herrlichen Bergtal, 80 Auto-Minuten nördlich des Adamello-Massivs in Richtung Bozen. Hier, oberhalb des Dorfs Caldes trug sich im April 2023 der tragische Tod des 26 Jahre alten Andrea Papi zu. Papi war morgens zum Waldlauf aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt. Später wurde sein zerfleischter Körper gefunden, dazu ein blutverschmierter Stock, mit dem sich der Norditaliener offenbar gegen seinen Angreifer zu wehren versuchte.

Der tödliche Angriff veränderte alles

Per DNA-Test konnte das Tier identifiziert werden. Es handelte sich um „JJ4“, genannt Gaia – Brunos Schwester. Eine Braunbärin, die offenbar ebenfalls mit Jungen unterwegs war. Papi war der erste seit Jahrhunderten in Italien von einem Bären getötete Mensch. Sein Tod war ein Wendepunkt im Trentino. Papis Eltern haben im Wald über Caldes einen Gedenkstein und ein Holzkreuz im Andenken an ihren Sohn aufstellen lassen. „Ins Unendliche und darüber hinaus“, lautet die Inschrift auf dem Kreuz, jemand hat einen Rosenkranz daran gehängt.

Wie ein Mantra wiederholt Carlo Papi, der Vater, einen Satz. Er lautet: „Wir wollen Gerechtigkeit.“ Das inzwischen gefangene Tier kann sie nicht liefern. Also verklagte die Familie Provinzhauptmann Maurizio Fugatti und den Bürgermeister von Caldes, Antonio Maini, wegen fahrlässiger Tötung. Die Behörden hätten nicht genügend für die Sicherheit der Bürger unternommen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, aber die Papis klagten weiter. Im Februar soll ein Richter entscheiden. Erst zerfleischte ein Braunbär einen Menschen. Jetzt gehen die Menschen aufeinander los, wenn auch nur vor Gericht.

Die Provinzregierung unter Präsident Fugatti, der anonyme Drohungen erhielt, fährt einen ebenso harten wie umstrittenen Kurs. Im März verabschiedete sie ein Dekret, demzufolge acht Bären pro Jahr abgeschossen werden dürfen. „Wir haben 70 Bären zu viel im Trentino“, behauptet Fugatti.

Drei als problematisch eingestufte Tiere wurden 2024 erlegt, dazu gehörte auch die 22 Jahre alte Bärenmutter, die den französischen Wanderer in Dro angegriffen hatte. Gaia, die Andrea Papi tötete, sollte ebenfalls getötet werden. Tierschützer erwirkten aber in letzter Minute einen Stopp vor Gericht. Seither fristet Gaia im Casteller-Gehege oberhalb der Provinzhauptstadt Trento ihr Dasein. Tierschützer bezeichnen es als „Kerker“.

Einsperren, erschießen – was tun mit den Braunbären im Trentino? Zumal es ja die Menschen waren, die entschieden, die fast ausgerotteten Tiere hier wieder anzusiedeln.

Carlo Andreotti war von 1994 bis 1999 Provinzhauptmann. Er sagt: „Ganz offensichtlich ist das Life-Ursus-Projekt aus dem Ruder gelaufen, es übertraf die optimistischsten Erwartungen.“ Die Wenigsten hätten gedacht, dass sich die Bären so gut an das Territorium anpassen würden. 70 Prozent der Bevölkerung befürworteten damals die Wiederansiedlung. Im Oktober veranstalteten 13 Gemeinden im Val di Sole eine Abstimmung über die Frage: „Sind Sie der Meinung, dass die Anwesenheit großer Raubtiere wie Bären und Wölfe eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und einen Nachteil für die Wirtschaft darstellt?“ 98 Prozent stimmten mit „Ja“, knapp 8000 Menschen nahmen teil.

Für Massimo Vitturi ist die Behauptung, die Wiederansiedlung sei aus dem Ruder gelaufen, eine „Fake-News“. Vitturi ist Aktivist des Tierschutzverbands LAV. Er sagt: „Das Projekt endete 2004 und hatte den einzigen Zweck, eine minimale Bärenbevölkerung von 50 Exemplaren im Trentino anzusiedeln, um das Überleben der Art sicherzustellen. Dieser Zweck wurde erreicht. Von einem Maximum war nie die Rede.“ Ob es heute zu viele Bären gibt? „In der Natur gibt es kein Zuviel oder Zuwenig, die Natur sorgt selbst für das Gleichgewicht.“ Die Provinzregierung, sagt Vitturi, habe die Angst aus politischen Gründen geschürt.

Vitturis Organisation ist es mitzuverdanken, dass die Bärin Gaia nicht abgeschossen wurde. Die Tierschützer legten Beschwerde gegen den Abschussbefehl ein, das Verwaltungsgericht gab ihnen recht. Im jüngsten Fall trickste die Provinzverwaltung die Tierschützer allerdings aus. Provinzhauptmann Fugatti unterschrieb ein Tötungs-Dekret gegen „M91“ an einem Freitag Ende November, schon in der nächsten Nacht erlegte die Forstwache das als gefährlich eingestufte Tier. „Das war hinterhältig, wir hatten keine Zeit, eine Beschwerde vor Gericht einzulegen“, protestiert Vitturi. Sogar demokratische Regeln würden inzwischen aus den Angeln gehoben.

Tierschützer wie er verlangen vor allem zwei Dinge. Das flächendeckende Aufstellen von Mülltonnen, die Bären nicht öffnen können. So würden die Tiere nicht in die Nähe der Dörfer gelockt. Zweitens eine weitreichende Informationskampagne zum Verhalten beim Zusammentreffen mit einem Bären. „Der Bär hat Angst vor dem Menschen. Wenn man sich richtig verhält, passiert nichts“, behauptet Vittori. Am besten sei es, mindestens zu Dritt unterwegs zu sein und sich hörbar zu unterhalten, die Tiere seien scheu. Trifft man dennoch auf einen Bären, gelte es Ruhe zu bewahren und auf keinen Fall Steine zu werfen oder einen Stock zu nehmen. Der französische Tourist in Dro verhielt sich korrekt und wurde trotzdem verletzt.

So stehen sich Tierschützer, Provinzverwaltung, Bürgermeister und die Opferfamilie unversöhnlich gegenüber. Bärin Gaia, die Andrea Papi tötete, darbt seit mehr als einem Jahr im engen Casteller-Gehege. In ihrem Fall soll das Problem in Deutschland gelöst werden. Der „Alternative Wolf- und Bärenpark Schwarzwald“ bei Freudenstadt will die Bärin im Frühjahr aufnehmen. Ein entsprechendes Freigehege wird gerade gebaut. Auch Gaias und Brunos Mutter, Jurka, ist schon hier, sowie eine Halbschwester. Parksprecher Christopher Schmidt weiß: „Ein Leben in Gefangenschaft ist der absolute Horror für jedes Wildtier.“ Aber manchmal eben doch die scheinbar beste Lösung.

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