Italienischer Tanz auf dem Vulkan

von Redaktion

„Wenn es passiert, passiert es“: Rita und Antonella in der kleinen Bar Santamaria in Pozzuoli. © Müller-Meiningen

Das Vulkanfeld Solfatara in Pozzuoli gehört zum Gebiet des Supervulkans. © Christoph Sator/Picture Alliance

Mauro Di Vito, Direktor des Vesuv-Observatoriums, vor einer Karte, auf der das Vulkangebiet eingezeichnet ist. © JMM

Die Fischerboote liegen im Trockenen, weil sich der Boden hebt und so der Wasserspiegel sinkt. © Müller-Meiningen

Die Kleinstadt Pozzuoli liegt im Westen der Metropole Neapel – auf einem Gebiet mit starker vulkanischer Aktivität. © pa

Der Vesuv (im Hintergrund) ist kein Supervulkan, aber schon seine Kraft ist zerstörerisch. Im Jahr 79 nach Christus brach er aus und begrub die antike römische Stadt Pompeji (im Bild) unter einer bis zu 25 Meter dicken Schicht aus vulkanischer Asche und Bimsstein. © Andreas Engelhardt/Picture Alliance

Pozzuoli – Es ist um die Mittagszeit am Hafen von Pozzuoli. Gerade legt die Fähre von Toremar am Kai an. Antonio Il Lungo steht am Hafen und belädt seinen alten Fiat Panda mit Brot, Bier und was man sonst noch so braucht. Der frühere Polizist ist 76 Jahre alt, er kennt Pozzuoli wie seine Westentasche. Er kann erzählen, wie es früher war, als der Meeresspiegel noch anderthalb Meter höher stand. „Da drüben, in dem weißen Gebäude, hat meine Schwiegermutter gelebt. Das Wasser reichte bis ans Haus hin, ja bis ans Haus“, sagt Il Lungo. Er deutet zur Pizzeria Pisani hinüber. Dort, wo sich früher die Wellen brachen, schieben sich nun Restaurantgäste genüsslich Pizzastücke in den Mund.

Der Untergrund bewegt sich in Pozzuoli. Er bebt, hebt sich, und das seit Jahrzehnten. Hier, 20 Kilometer westlich von Neapel, sitzen die Menschen Jahr für Jahr mehr auf dem Trockenen. Man muss nur 50 Meter an der Pizzeria vorbei zum alten Hafenbecken, der Darsena, gehen und sieht Fischerboote auf Grund liegen. Das Wasser ist zurückgegangen, aber nicht etwa wegen der Gezeiten. Im Erdinneren unter Pozzuoli rumort ein Supervulkan, die Phlegräischen Felder. Der Vulkan hat die Erdoberfläche über die Jahre angehoben. 1,31 Meter alleine seit dem Jahr 2006.

1500 Erdstöße allein in einem Monat

Man erkennt das auch an den beiden Hafenmolen. „Schauen Sie doch“, sagt Il Lungo. „Links legten die Fähren früher an, aber die Mole ist jetzt zu hoch.“ Rechts wurde Mitte der 1980er-Jahre eine zweite Mole gebaut, hier legt gerade die Toremar-Fähre an. Die Touristen, die aussteigen, merken auf den ersten Blick nichts. Aber wer hier schon länger lebt, weiß, wie sich der Ort verändert hat.

Die ständigen Erdbeben sind die Warnsignale, an die sich hier viele längst gewöhnt haben. Alleine im vergangenen Mai waren es 1500 Erdstöße, Gebäude wurden beschädigt. Einige Fassaden in der Altstadt werden seither per Gerüst abgestützt. Inzwischen hat sich die Lage etwas beruhigt. Anfang Dezember wurde noch einmal ein Erdstoß der Stärke 3,4 gemessen. Derzeit sind es rund 400 Erdbeben pro Monat. „Wir tanzen hier über dem Abgrund“, sagt Antonio Il Lungo.

Mauro Di Vito ist Direktor des Vesuv-Observatoriums in Neapel. Die 900 000 Einwohner zählende Hauptstadt Kampaniens hat noch einen zweiten gefährlichen Nachbarn. Der Vesuv liegt nur wenige Kilometer östlich. Er ist kein Supervulkan, aber seine zerstörerische Kraft hat er schon einmal bewiesen, als er 79 nach Christus die antike Stadt Pompeji, heute ein Touristenmagnet, unter seiner Asche begrub. Der Vesuv gehört nicht zu den Phlegräischen Feldern, aber es gibt eine Verbindung. In zehn Kilometern Tiefe treffen sich die Magmakammern.

Das Observatorium überwacht auch die Phlegräischen Felder, denn auch in Neapel bebt es, manchmal ausgelöst vom Jubel der Tifosi des SSC Neapel im Diego-Armando-Maradona-Stadion, häufiger vom Supervulkan – ein Wort, das Mauro Di Vito ablehnt. „Das ist ein Begriff, den sensationslüsterne Vulkanforscher benutzen, wir sagen Caldera“, erklärt er. Caldera, das bedeutet Kessel. Was der Direktor gar nicht mag, ist Hysterie. Di Vito wirkt abgeklärt. Neben seinem Bildschirm steht ein großes rotes Horn, ein in Neapel verbreitetes Symbol, dem die Abwehr von Unglücken zugetraut wird. Vulkanausbrüche inklusive.

Die Caldera, der Riesenkrater, hat sich bei einem enormen Vulkanausbruch vor 15 000 Jahren gebildet. Er umfasst eine Fläche von 18 Quadratkilometern, vom Westen Neapels über Fuorigrotta, Bagnoli und Pozzuoli über den Golf fast bis zur Insel Ischia. Da schlummert ein Ungeheuer. 1,5 Millionen Menschen leben hier. Sie haben sich in alten Zeiten auch wegen der fruchtbaren Vulkanerde angesiedelt, sieht man von der bezaubernden Schönheit der Gegend ab.

Wie höllisch es im Untergrund zugeht, kann man bei einem Besuch des Solfatara-Kraters auf halbem Weg zwischen Fuorigrotta und Pozzuoli erahnen. Schwefeldämpfe steigen auf, es blubbert aus heißem Schlamm, das Gestein ist teilweise gelblich gefärbt. Seit 2017 ist das Areal für Besucher gesperrt. Damals stürzten drei Touristen in einen Spalt und erstickten an den giftigen Gasen.

Das Magma lauert in 7,8 Kilometern Tiefe

Im Jahr 1538 gab es den letzten größeren Ausbruch, mit 24 Toten. Wann es wieder so weit ist? Diese Frage beschäftigt viele, bleibt aber ohne Antwort. Wissenschaftler haben einen Ausbruch simuliert, in dem sich Lavaströme so spektakulär wie beunruhigend über das Areal und ins Meer ergießen. Vorhersehbar sind Ausbrüche nicht, sagt Di Vito kühl. „Seit Jahren überwachen wir zwar mit großer Genauigkeit den Vulkan, aber Vorhersagen bleiben Vorhersagen. Der Vulkan sagt nicht vorher Bescheid, er entscheidet ganz allein.“

Zuletzt hat er nach einer langen Ruhephase um das Jahr 2012 entschieden, wieder massive Signale, also Erdbeben, an die Oberfläche zu senden. Bradyseismus nennen Geowissenschaftler es, wenn sich die Erdoberfläche langsam hebt und senkt. „In den letzten beiden Jahren hat sich das noch einmal verstärkt“, sagt Di Vito. Dennoch hat der italienische Zivilschutz immer noch nicht von Alarmstufe Gelb auf Orange geschaltet. Denn das hätte die ersten Evakuierungsmaßnahmen zur Folge. Der Direktor, der nachts aus dem Bett geholt wird, wenn ein Erdbeben den Wert 1,5 übersteigt, führt in einen „Situation-Room“ im unteren Stockwerk. Auf Bildschirmen werden hier alle unterirdischen Bewegungen übertragen und dokumentiert. Di Vito zählt auf: 35 GPS-Empfänger kontrollieren die Deformation des Bodens in den Phlegräischen Feldern. 32 Messstationen zu Wasser und zu Land registrieren Erdbeben. Wärmebildkameras erfassen die Temperatur im Boden. An fünf Stellen wird die Zusammensetzung der Gase im Erdinneren aufgezeichnet.

Auf diese Weise kann der Aufstieg von Magma festgestellt werden. Die Phlegräischen Felder sind einer der am besten überwachten Vulkane der Welt. „Die Magmakammer befindet sich in 7,8 Kilometer Tiefe“, sagt Di Vito. „Wir haben derzeit keine Anzeichen für vulkanische Aktivität.“ Trotz der Erdbewegungen hätten sich die Parameter im vulkanischen System nicht verändert. Deshalb noch Alarmstufe Gelb.

Obwohl die Gefahr seit Langem bekannt ist, scheinen die Behörden sie erst seit Kurzem richtig ernst zu nehmen. Im Sommer gab es nach langer Zeit die erste Katastrophenübung. In Pozzuoli nahmen nur 30 Menschen teil, in Bagnoli 16. Bei einer zweiten Übung im Oktober kamen 89 Teilnehmer aus Fuorigrotta und 139 aus dem benachbarten Bagnoli. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass im Ernstfall Chaos ausbrechen würde.

Die Einheimischen vergessen die Gefahr

Rita und Antonella haben nicht mitgemacht bei den Übungen. Die Frauen sitzen in der Bar Santamaria in der Nähe des ausgetrockneten Darsena-Hafens beim Espresso. Rita hat schon einmal erlebt, wie es ist, das eigene Zuhause verlassen zu müssen. Als Pozzuoli ab 1980 heftig bebte, wurde sie als junge Frau mit ihrer Familie an die Küste des Tyrrhenischen Meers verfrachtet. Erst nach einem Jahr konnte sie wieder zurück. „Keine schöne Zeit“, sagt Rita. Ihre Freundin Antonella sagt: „Wenn die Erde bebt, habe ich Angst. Ich denke dann, okay, jetzt muss ich weg.“

Aber dann beruhigt sich der Vulkan wieder, alles geht seinen normalen Gang, man vergisst die Gefahr. So geht es fast allen Menschen hier. Sie fühlen sich zu Hause in Pozzuoli. „Das Meer, die Ruhe, wir kennen uns alle, haben alles“, sagt Antonella. Warum also weggehen? „Ich riskiere es“, fügt sie hinzu und nippt am Espresso.

Dann spricht Rita noch einen Satz, der wie kaum ein anderer den Fatalismus beschreibt, mit dem die Menschen auf dem Mega-Krater der Phlegräischen Felder ihr Schicksal hinnehmen: „Wenn es passiert, dann passiert es – und wenn nicht, dann nicht.“ Nach Norden wird sie sich jedenfalls nicht noch einmal verpflanzen lassen. „Da oben“, sagt Rita, „können sie uns Neapolitaner ja sowieso nicht ausstehen!“

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