Kanzler Olaf Scholz gibt seine Stimme ab. © afp
So nah und doch so fern: Auf dem Weg in den Plenarsaal kam Friedrich Merz an den AfD-Abgeordneten um den Fraktionsvorsitzenden Tino Chrupalla (v. r.) vorbei. Auch in diesem Moment schien er um Distanz bemüht. © Macdougall/AFP
München/Berlin – Dass an diesem Tag alles anders ist als sonst, zeigen die Minuten nach der Abstimmung. Mit hauchdünner Mehrheit (348 zu 344 Stimmen) drücken CDU und CSU ihren Antrag für einen härteren Migrationskurs durchs Parlament. Und während SPD und Grüne der Union schwere Vorwürfe machen, jubeln sie rechtsaußen frenetisch. „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche“, sagt später AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann und spricht von einem historischen Moment. „Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen.“
Zum ersten Mal stimmen die Union und die in Teilen rechtsextreme AfD im Bundestag zusammen ab; und man kann es eine bittere Ironie nennen, dass der Tag viele Stunden zuvor mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus beginnt. Der Bundespräsident spricht, auch ein Holocaust-Überlebender aus der Ukraine. Im Hohen Haus herrscht andächtige Stille. Als Frank-Walter Steinmeier von einer Begegnung bei der Gedenkfeier in Auschwitz berichtet und der Warnung an ihn, man solle in Deutschland die Feinde der Demokratie ernst nehmen, ist das ein Satz, der nachhallt.
Später geht es dann umso aufgewühlter zu. Bärbel Bas, die Bundestagspräsidentin, versucht noch, einen moderaten Ton zu setzen, als sie mahnt, die folgende Debatte müsse „ehrlich, schonungslos und respektvoll“ sein. Schonungslos wird es dann wirklich, aber der Respekt bleibt bald auf der Strecke.
Kanzler Scholz wirft Freistaat Bayern „Vollzugsdefizit“ vor
So ist das im Wahlkampf. Offiziell mag eine Regierungserklärung des Kanzlers auf der Tagesordnung stehen, doch staatstragend geht es an diesem Tag selten zu. Angefangen bei Olaf Scholz. Der will einerseits das Asylrecht, über das nach den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg erbittert debattiert wird, verteidigen. Aber schnell geht er über in eine Gegenoffensive, die zunächst vor allem der bayerischen Staatsregierung gilt. Scholz beklagt ein „Vollzugsdefizit“ der dortigen Behörden, das die Morde von Aschaffenburg erst ermöglicht habe: „Ich bin die Nebelkerzen leid, die nach solchen Taten geworfen werden, um eigene Versäumnisse zu kaschieren.“
Man kann freilich auch das für eine Nebelkerze halten, denn an diesem Tag soll es ja nicht nur um Aufarbeitung gehen (die auch Bundesbehörden nicht gut aussehen lässt), sondern um konkrete Konsequenzen. Der gestrige Tag mit der Regierungserklärung und zwei Anträgen der Union, die auf eine massive Verschärfung der Migrationspolitik drängt, ist der erste von zwei Höhepunkten in dieser Sitzungswoche. Der zweite ist morgen, wenn die Union ihren Gesetzesvorschlag zur Abstimmung stellt.
Scholz verweist in seiner Rede auf den – bisher einmaligen – Abschiebeflug nach Afghanistan („Das ist verdammt schwierig“), stellt Vergleichbares für Syrien in Aussicht und betont, man sei „mit einigen Maßnahmen hart an die Grenze dessen gegangen, was die Gesetze erlauben“. Über geltendes Recht hinaus dürfe man aber nicht gehen.
Das zielt frontal auf die Union ab und den Fünf-Punkte-Plan ihres Kanzlerkandidaten Friedrich Merz. „Scheinlösungen“ nennt Scholz dieses Papier. „Das ist die Antwort der Populisten.“ Vor dem Europäischen Gerichtshof, prophezeit er, würden die Maßnahmen nicht bestehen können. Dennoch gehe Merz diesen Weg und nehme, schlimmer noch, die Hilfe der AfD „offen in Kauf“. Wenn es nach der Bundestagswahl darum gehe, Mehrheiten zu finden, sei da auch eine Koalition mit der Rechtspartei nicht auszuschließen, allen Dementis zum Trotz.
In seiner insgesamt flammenden Rede ist dies der explosivste Teil. Scholz hält Merz seine Vorgänger an der CDU-Spitze – Adenauer, Kohl, Merkel – vor, die noch Respekt gehabt hätten vor europäischem Recht: „Das größte Land der EU würde EU-Recht brechen, so wie das bisher nur Viktor Orbán wagt.“ Scholz wiederholt den Satz noch mal wortgetreu, so wichtig ist er ihm. Merz‘ jüngste Ankündigung, in der Migrationspolitik „all in“ zu gehen, kontert er mit beißender Kritik: „Politik in unserem Land ist doch kein Pokerspiel. Der Zusammenhalt Europas ist kein Spieleinsatz. Und ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein.“
Friedrich Merz scheint in diesen Minuten sehr in seine Unterlagen vertieft, viel Aufmerksamkeit bringt er dem Kanzler nicht entgegen. Umgekehrt ist das kurz danach anders. Scholz verfolgt die anschließende Rede des Oppositionsführers mit grimmiger Miene, aber hochkonzentriert. Und er bekommt eine Menge zu hören.
Zunächst wirkt Merz ungewohnt defensiv. Er spricht leise, wie man es sonst eher vom Kanzler kennt, und bekommt dafür einen Rüffel eines Abgeordneten. Mit Nachdruck unterscheidet der CDU-Chef zwischen straffälligen Asylbewerbern und Menschen mit Migrationshintergrund, „ohne die unser Land nicht bestehen könnte“. Die Distanzierung von der AfD ist ihm erkennbar wichtig. Zu seinen umstrittenen Vorschlägen und dem freudigen Echo aus dem rechten Lager sagt er aber auch: „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen.“
Daran, dass die AfD für ihn der falsche Umgang ist, lässt Merz keinen Zweifel. Als „niederträchtig“ und „infam“ weist er Scholz‘ Theorie zurück, die Union könne nach dem 23. Februar auch eine schwarz-blaue Koalition eingehen. „Sie kennen mich gut genug“, erinnert er Scholz.
Merz wiederum kennt den Kanzler und hält ihm erneut vor, dem Ernst der Lage nicht mit entschlossenem Handeln gerecht zu werden. „Was muss in Deutschland noch passieren, bevor auch Sie der Meinung sind, dass es sich um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit handelt?“, fragt er Scholz mit Bezug auf die jüngsten Bluttaten. In solchen Fällen habe nationales Recht Vorrang vor europäischem, weshalb auch andere Länder in ihrer Migrationspolitik rigider agierten. Er, Merz, könne es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, bis zur Bundestagswahl nur noch Entscheidungen zur Abstimmung zu bringen, bei denen sich die Parteien der Mitte vorher abgestimmt hätten. Dass es an dieser Stelle hämische Rufe gibt („Welches Gewissen?“), war wohl zu erwarten.
Nicht alle in der Union folgen ihm. Die thüringische Abgeordnete Antje Tillmann stimmt gegen Merz‘ Antrag, acht weitere Unions-Kollegen gaben ihre Stimme nicht ab: darunter die frühere Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz, der ehemalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz und der Außenpolitiker Roderich Kiesewetter. SPD und Grüne stimmen gegen den Antrag. Die Mehrheit kommt am Ende mit den Stimmen von Union (187), AfD (75) und FDP (80) zusammen. Auch sechs Fraktionslose stimmen zu.
Am Freitag folgt die nächste Abstimmung und Merz ahnt schon, was dann möglicherweise geschehen wird. Sollte die AfD dem „Zustrombegrenzungsgesetz“ der Union zur Mehrheit verhelfen, werde es „unerträgliche Bilder“ von jubelnden Rechtsaußen-Politikern geben. Es wäre dann das zweite Mal.