Sie liebt ihren Beruf als Erzieherin. Trotzdem hat Miriam Schultz einen Brandbrief ans Sozialministerium geschickt. © msc
Putzbrunn – Miriam Schultz ist Erzieherin im Kindergarten in Putzbrunn im Landkreis München. Sie liebt ihren Beruf – obwohl sich die Arbeitsbedingungen für sie und ihre Kollegen immer mehr verschlechtern. Die 35-Jährige beobachtet mit Sorge, dass mehr und mehr Kollegen den Beruf wechseln, weil ihnen der Alltag schwer zu schaffen macht. Deshalb hat sie einen Brandbrief an Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) geschrieben. Sie schilderte ihr den Alltag, machte Vorschläge, was sich ändern müsste – und lud die Ministerin in den Kindergarten ein, um sich ein Bild zu machen. Über die Antwort aus dem Ministerium ist Schultz enttäuscht.
Sie sind seit 18 Jahren Erzieherin. Mit dem Wissen von heute: Würden Sie sich noch einmal für diesen Beruf entscheiden?
Schwierige Frage. Ich finde: Wenn ich einmal am Tag richtig herzlich lache, habe ich den richtigen Beruf. Und herzlich lachen tue ich. Trotz des harten Alltags. Es macht mir noch Spaß. Ich kann aber nicht sagen, ob ich mich nochmal für den Beruf entscheiden würde. Ich habe ihn damals unter anderen Bedingungen gewählt.
Warum geben so viele Berufsanfänger auf?
Sie werden nicht auf den Alltag im Kindergarten vorbereitet. Der Berufsalltag wird ihnen in den Fachakademien rosarot erklärt, sie kommen mit falschen Erwartungen. Man müsste schon in der Ausbildung viel stärker auf die Alltagsprobleme eingehen.
Sie haben vor Kurzem einen Brandbrief an die Sozialministerin geschrieben. Warum?
Ich glaube, bei ihr ist nicht angekommen, mit welchen Problemen wir täglich kämpfen.
Welche Probleme sind das?
Früher mussten Kinder windelfrei und mit Kindergartenreife kommen. Der Fokus unserer Arbeit lag auf der Pädagogik. Heute gibt es Inklusion, das ist in vielen Bereichen völlig richtig. Aber es funktioniert meiner Meinung nach nicht überall. Zumindest nicht in so großen Gruppen. Wir haben kaum noch Kinder ohne Förderbedarf. Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt viel mehr auf der Pflege als auf Pädagogik. Nicht nur in der Krippe, wo das normal ist, sondern auch im Kindergarten. Teilweise gehen die Kinder mit vier noch nicht auf die Toilette oder haben nicht gelernt, mit Messer und Gabel zu essen. Dazu kommt sehr individueller Förderbedarf, den wir im Kindergarten gar nicht leisten können. Es gibt zu wenig heilpädagogische Tagesstätten und Therapieplätze für Kinder. Wir haben in den Gruppen auch viele Migranten- und Flüchtlingskinder, die kaum Deutsch sprechen.
Durch die Einführung der Sprach-Kitas müssen Sie und Ihre Kollegen auch Sprachförderung leisten. Wie sieht das aus?
Zukünftige Schulkinder müssen nun zu einem Sprachtest in die Grundschule. Wir müssen sie zusätzlich beobachten und einen Fragebogen ausfüllen. Also wieder Formalitäten ohne Ende. Wenn die Kinder durchfallen, was sie reihenweise tun werden, müssen wir im Kindergarten Sprachunterricht geben. Das ist nicht mit dem getan, was wir bisher machen. Ich finde es gut, dass die Politik erkannt hat, dass es sprachlich große Defizite bei den Kindern gibt und man nicht alle einfach in die Grundschule durchwinken kann. Viele müssen erst aufholen. Aber der Personalmangel im Kindergarten ist bekannt und jetzt kriegen wir noch ein zusätzliches Arbeitsfeld dazu?
Sie schreiben in Ihrem Brandbrief: „Heute lebe ich keinen Kindergartentag mehr, sondern versuche ihn zu überleben.“ Was meinen Sie damit?
Die Lautstärke. Eine Gruppe hat 25 Kinder. Ich habe Glück, mein Träger hat kleinere Gruppen von 20 Kindern ermöglicht. Wir sind drei Erzieher. In unserem Kindergarten sind Wickelkinder, Flüchtlingskinder, Kinder mit sehr speziellem Förderbedarf. So sind auch 20 Kinder noch zu viel.
Frau Scharf verweist in der Antwort auf Ihren Brief auf die Kommunen. Sie sind für die Gruppengrößen zuständig…
Staatsregierung und Kommunen schieben sich bei diesem Thema den Schwarzen Peter hin und her. Natürlich hat eine Kommune die Möglichkeit, kleinere Gruppen zu bilden. Aber sie muss das auch finanzieren können. Kann sie aber nicht, wenn dann Fördergelder wegfallen. Aber es kann doch nicht sein, dass man wegen der Finanzierungsfrage die Gesundheit von Menschen belastet. Ich spreche nicht nur für den Kindergarten, sondern auch gleich mit für die Pflege. Das sind keine Bürojobs. Deshalb habe ich in meinem Brief gefordert, 34 Stunden als Vollzeit anzuerkennen. 39 Stunden pro Woche ist körperlich extrem belastend. Ich muss meine Augen überall haben. Schließlich habe ich für alle Kinder die Verantwortung.
Wie haben sich die Erwartungen der Mütter und Väter verändert?
Sehr. Wir haben Eltern, die für ihr Kind beste Freunde sein wollen. Neulich hat eine Mutter bei uns im Kindergarten 45 Minuten gebraucht, um ihr Kind abzuholen. Es hat alle zwei Minuten überlegt, wo es angezogen werden möchte. Einige Eltern haben verlernt zu erziehen. Was man früher mit gesundem Bauchgefühl gemacht hat, wird gegoogelt.
Müssen Sie mit Eltern oft diskutieren?
Nicht wegen der Pädagogik. Aber darüber, was wir im Kindergarten alles leisten sollen. Von uns Erziehern wird erwartet, dass wir rund um die Uhr erreichbar sind. Manchmal werden wir um 6.30 Uhr morgens angerufen, manchmal um halb 12 Uhr nachts. Viele Eltern erwarten vom Kindergarten nicht Pädagogik, sondern dass ihr Kind möglichst viel erlebt. Und hin und wieder gibt es völlig verrückte Forderungen wie beheizte Klobrillen, oder dass wir Protokoll über das Lüften im Gruppenraum führen. Wir sind sogar aufgefordert worden, einem Kind während des Toilettengangs vorzulesen. Das ist nicht umsetzbar – nicht mal für Tagesmütter. Viele Eltern sollten sich an ihre eigene Kindheit erinnern. Niemandem von uns ist früher auf dem Klo vorgelesen worden.
Sie fordern in Ihrem Brief aber auch eine Entlastung der Eltern.
Stimmt. Auf ihnen liegt ein wahnsinniger Druck. Deshalb fordere ich, dass sie von ihren Arbeitgebern für die Eingewöhnungszeit in den Kindergarten zwei Wochen freigestellt werden. Die Kinder spüren, unter welchem Druck ihre Eltern stehen. Wenn wir nicht von Anfang an eine gute Basis schaffen, haben wir mit den Eltern Probleme, die Kinder fühlen sich nicht wohl. Die Eingewöhnung ist sehr wichtig. Viele Eltern haben schon zu kämpfen, für alle Schulferien Urlaub zu bekommen. Nicht alle können sich das unbezahlt leisten oder haben Oma und Opa, die sie unterstützen.
Haben sich auch die Kinder verändert?
Der Medienkonsum der Kinder ist eine Katastrophe. Sie können sich nicht lange konzentrieren, haben eine niedrige Frustrationstoleranz und keine Fantasie mehr. Wir als Kindergarten können mit den virtuellen Welten nicht mithalten. Dort ist alles aufregend. Das wirkliche Leben ist anstrengend. Man muss Freunde finden, lernen, aufeinander achtzugeben und miteinander zu spielen. Normale Regeln einzuhalten. In virtuellen Welten bekämpft man meist Gegner. Und so was spielen die Kinder. Viele können zum Beispiel gar keine Rollenspiele mehr spielen – und wenn, dann wird Krieg gespielt.
Wie müssten Kindergärten personell ausgestattet sein, um all diese Herausforderungen zu meistern?
Wir bräuchten einfach kleinere Gruppen. Mit der pädagogischen Arbeit ist es ja nicht getan. Weil viele Kinder einen hohen Förderbedarf haben, müssen wir viel Dokumentationsarbeit leisten und auch Berichte schreiben – für Ärzte oder Therapeuten. Dazu kommen hauswirtschaftliche Aufgaben. Und natürlich würden wir die pädagogische Arbeit gerne intensiver vorbereiten. Ich arbeite glücklicherweise bei einem Träger, der darauf achtet, dass für all das Zeit bleibt. Aber ich bin gut vernetzt und weiß deshalb, das ist nicht überall so.
Was haben Sie sich von Ihrem Brandbrief erhofft?
Ich wollte, dass Frau Scharf versteht, dass das Problem in den Kindergärten hausgemacht ist. Es gibt genügend Erzieher. Die Fachakademien sind voll. Aber viele Erzieher bleiben nicht, sie wechseln in andere Berufe. Ich allein habe in meinem Umfeld zehn Personen, von denen ich weiß, dass sie zwar den Beruf erlernt haben, aber wegen der Arbeitsbedingungen nun etwas anderes machen. Mit zehn Erziehern könnte man drei neue Gruppen öffnen.
Sie haben Frau Scharf in Ihren Kindergarten eingeladen, damit sie sich ein Bild machen kann. Welche Antwort haben Sie bekommen?
Von ihr persönlich gar keine. Einer ihrer Referatsmitarbeiter hat dankend abgelehnt. Aufgrund der Vielzahl an Terminen. Daran sieht man: Das Thema ist für die Politik nicht wichtig. Die Politiker von heute haben in ihrer Kindheit noch einen anderen Kindergarten kennengelernt. Ich bin enttäuscht, dass das Thema nicht mal im Wahlkampf interessiert. Viele Politiker haben doch selbst Kinder. Auch wenn die vielleicht in private Einrichtungen gehen oder anders betreut werden.
Wie lang halten Sie Ihren Alltag, so wie er ist, noch aus?
Das weiß ich nicht. Aber ich werde bestimmt nicht bis zur Rente in diesem Beruf bleiben.