INTERVIEW

„Präsident Erdogan kam ungeschoren davon“

von Redaktion

Dawid Bartelt von der Heinrich-Böll-Stiftung über die Aufarbeitung des Erdbebens

Antakya – Zehntausende kamen beim Erdbeben vor zwei Jahren in der Türkei und in Syrien ums Leben – auch wegen Baupfusch und schlechtem Katastrophenschutz. Wie wurde das Erbeben aufgearbeitet? Und musste sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dafür verantworten? Wir sprachen darüber mit Dawid Bartelt, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.

Herr Bartelt, wie wurden das Erdbeben und die Folgen in der Türkei politisch aufgearbeitet?

Die politische Aufarbeitung fand nicht zuletzt durch die Kommunalwahlen im letzten Jahr statt. Lokale Politiker der Regierungspartei AKP wurden in den Erdbebengebieten heftig abgestraft, teils um 20 Prozentpunkte im Vergleich zu den Ergebnissen fünf Jahre vorher.

Doch bei den Präsidentschaftswahlen 2023 erhielt Präsident Erdogan in vielen Erdbebengebieten die meisten Stimmen, auch in der Provinz Hatay. Wie erklären Sie sich das?

Bei den Wahlen drei Monate nach dem Beben kam Erdogan tatsächlich ungeschoren davon. Die Menschen in den Erdbebenregionen haben zwischen Erdogan, dem Landesvater, und den Lokalpolitikern unterschieden. Erdogan hat man als Einzigem zugetraut, die Häuser wieder aufzubauen. Schließlich hat er schon früher bewiesen, dass er die Macht über die Geldtöpfe und die Verbindungen hat, um das Land wieder aufzubauen.

Wurden bereits Bauunternehmer oder Hoteliers verurteilt?

Es gibt laufende Verfahren gegen Bauträger und lokale Baubehörden. Der Chef des Türkischen Roten Halbmonds, das ist so etwas wie das Rote Kreuz in Deutschland, ist zurückgetreten. Auch der Chef des Katastrophenschutzes musste seinen Hut nehmen. Aber für das Ausmaß der Katastrophe und die Zahl der Toten sind es doch sehr wenige Verfahren.

Fordert die Gesellschaft in der Türkei nicht mehr Gerechtigkeit?

Die Anklagen, Verurteilungen und Rechtsstreitigkeiten um Gebäude und Zwangsumsiedlungen werden noch Jahre weitergehen. Aber der öffentliche Druck ist bereits stark gesunken. Im Grunde ist das Erdbeben aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden. Und ich denke, dass versucht wird, vieles unter den Teppich zu kehren. Die Verantwortlichen werden sagen, dass man jetzt lieber nach vorne blicken soll, als in der Vergangenheit zu wühlen.

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