„Sie haben uns belogen, sie haben uns vergessen“

von Redaktion

Große, moderne Wohnblocks entstehen in Antakya. Sie werden den Erdbebenopfern per Los zugeteilt. © Wochinger

Täglich karren Lastwagen tonnenweise Material für die Baustellen an. Den Einwohnern geht es zu langsam. © Wochinger

Auch in Jurten wie diesen sind Menschen untergebracht, die durch das Erdbeben obdachlos geworden sind. © Wochinger

Hülya und Mehmet in ihrem kleinen Container. Die Kinder schlafen auf den Sofas, sie selbst auf dem Boden. © Wochinger

Überall Ruinen: In der Altstadt von Antakya sind die Aufräumarbeiten noch lange nicht beendet. © Max Wochinger

Antakya – In Hülyas Kopf hallen sie noch, die Rufe der Menschen, die in ihren Häusern verschüttet wurden. „Ich höre ihre Schreie noch heute. Wir standen neben den Trümmern und haben mit bloßen Händen versucht, sie zu befreien“, erzählt sie. Doch ohne Bagger und Kräne waren sie machtlos. Nach zwei Stunden wurden die Schreie leiser, irgendwann verstummten sie ganz. Doch in Hülyas Gedanken flehen die Toten sie bis heute um Hilfe an.

Die Apokalypse brach am 6. Februar 2023 über den Südosten der Türkei und über Nordsyrien herein. Das erste Beben um 4.17 Uhr hatte eine Stärke von 7,8, neun Stunden später folgte noch eines, Stärke 7,6. In der Türkei starben offiziellen Angaben zufolge rund 53 500 Menschen, wobei die tatsächliche Zahl nach Meinung einiger Experten höher liegt. Von syrischer Seite gibt es keine offiziellen Angaben, man geht von mehr als 6000 Menschen aus.

In der Türkei verwüstete das Beben elf Provinzen, fast 14 Millionen Menschen waren betroffen, mehr als zwei Millionen wurden obdachlos, über 800 000 Gebäude beschädigt oder zerstört. Am heftigsten traf es die Provinz Hatay im südlichsten Zipfel des Landes – und die historische Stadt Antakya, Hülyas Heimat.

■ Fast alle Häuser zerstört

Hülya, 46, überlebte leicht verletzt, auch ihre fünf Kinder und ihr Mann hatten Glück: Ihr Wohnkomplex hielt stand, bewohnbar ist er aber nicht mehr. „Er wird bald abgerissen“, sagt sie. Nur einen Monat vor dem Beben hatten sie den Kredit für die Wohnung abbezahlt. Jetzt ist sie verloren, ihr Bargeld und die Möbel wurden zur Beute von Plünderern.

In der römischen Antike war Antiochia, das heutige Antakya, nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt der Welt. 526 zerstörte schon einmal ein schweres Erdbeben die Stadt, gute 700 Jahre später beendeten mordende Mamluken ihre Blütezeit. Jetzt muss sie erneut auferstehen. Das Beben hat 85 Prozent der Häuser in der historischen Stadt zerstört. Ganze Stadtviertel wurden ausgelöscht, auch die Altstadt mit ihren jahrhundertealten Moscheen, Kirchen und der Synagoge legte das Beben in Schutt und Asche.

Andere Orte sind inzwischen zur Normalität zurückgekehrt. Trotzdem leben in den betroffenen Gebieten noch Hunderttausende in Containerdörfern. Auch in Antakya hat die Katastrophe nie aufgehört. Hülya wohnt seit eineinhalb Jahren in einem Container, mit ihrem Mann und drei der Kinder. Die Notunterkunft steht auf einem trostlosen Platz am Stadtrand, aufgereiht neben 450 anderen Containern. Auf 15 Quadratmetern schlafen die Kinder auf zwei Sofas, die Eltern rollen abends Matratzen aus. Ein Kühlschrank, ein kleiner Gasherd, der reicht, um Teewasser zu kochen. Mindestens einmal die Woche fällt der Strom aus. Stundenlang. „Wir leben im Moment“, sagt Hülya, „an die Zukunft denken wir nicht.“

Ihr Mann Mehmet erzählt von den Streitereien, die im Containerdorf immer wieder ausbrechen. „Ein Nachbar hat seine Tochter geschlagen, ein anderer hat mit seiner Frau Schluss gemacht und einfach die Kinder mitgenommen.“ Rückzugsorte und Privatsphäre gebe es hier nicht, sagt Mehmet. „Das lässt die Leute langsam durchdrehen.“

■ Giftiger Staub in der Luft

An anderen Stellen der Stadt gibt es Hoffnungsschimmer: Über den Dächern der Ruinen drehen sich unzählige Baukräne, besonders im Zentrum entstehen tausende Wohnungen. Plakate zeigen Illustrationen, wie die Viertel einmal aussehen sollen: moderne Wohnkomplexe, viel Grün, glückliche Menschen. Die Abbildungen verblassen unter der Realität, dem Lärm der Maschinen, dem Staub von den Baustellen, der sich in jede Pore legt. Noch immer müssen massenweise Häuser abgerissen werden, die oft mit Asbest verseucht sind. Der Stoff ist krebserregend, deshalb ist es üblich, mit Spritzwasser die Bildung giftiger Staubwolken zu vermeiden. In Antakya bleibt das Bewässern oft aus. Die Bagger schieben den Schutt unter der Februarsonne beiseite, der giftige Staub weht durch die Straßen.

Die Stadt hat sich in eine riesige Baustelle verwandelt. Die Einwohner sehen, wie Lastwagen rund um die Uhr neuen Zement und Ziegelsteine bringen. Beeindruckt sind sie nicht: Viel zu langsam geht ihnen der Aufbau voran. Schon am ersten Jahrestag des Bebens protestierten sie gegen die katastrophalen Zustände, ein Jahr später hat sich für die meisten nichts geändert. Sie fühlen sich im Stich gelassen und beschuldigen die Regierung, sie bewusst zu vernachlässigen.

Unmittelbar nach dem Erdbeben versprach Präsident Recep Tayyip Erdogan, innerhalb eines Jahres 320 000 Wohnungen bauen zu lassen. Das war gut drei Monate vor den Präsidentschaftswahlen. Für viele waren Erdogans Ankündigungen billige Wahlkampfversprechen, auch wenn die Türkei einen riesigen Bausektor hat.

Tatsächlich wurden bis zum Herbst, also 21 Monate nach dem Beben, nur gut 130 000 Wohnungen fertig, die Zentralregierung hat ihre Ziele deutlich nach unten korrigiert. Die subventionierten Wohnungen werden an registrierte Opfer per Zufallsgenerator verlost. Niemand weiß, wann er eine Wohnung bekommt – und wie lange er noch in der Containerstadt leben muss.

„Sie haben uns vergessen“, sagt Hülya über die Regierung. „Sie haben gesagt, dass in einem Jahr alles wieder gut sein wird. Aber wir leben immer noch im Ausnahmezustand. Sie haben uns belogen.“ Viele, die Erdogan 2023 gewählt haben, haben sich von ihm abgewandt. Erdogan gibt die Schuld am schleppenden Wiederaufbau der oppositionellen Lokalregierung in Hatay.

■ Inflation raubt Hoffnung

Nur wenige hundert Meter von Hülyas Containerstadt entfernt wohnt Zeynel, 64. Er zeigt Fotos von seinem Haus, das er für seine Familie gebaut hatte. Während des Bebens gab das Erdgeschoss nach, das Haus sackte nach unten. Verletzt wurde niemand. Wo früher das Haus stand, steht heute ihr Wohncontainer.

Zeynel bewarb sich vor zwei Monaten um eine der begehrten Wohnungen der staatlichen Wohnbaugesellschaft. Dabei weiß er nicht einmal, wie viel sie kosten wird – und wie er sie abbezahlen soll. „Die Inflation setzt uns ganz schön zu“, sagt er. Sie liegt bei über 42 Prozent, vor allem die Preise für Lebensmittel und Mieten sind extrem gestiegen. „Ich bekomme etwa 15 000 Lira Rente im Monat, das sind 400 Euro. Ein Kilo Tomaten kostet schon 50 Lira, wie soll man sich so eine Wohnung leisten können?”

Bis Ende des Jahres will die Regierung nun 450 000 Wohnungen gebaut haben. Viele zweifeln daran, und selbst dann fehlen immer noch hunderttausende Wohnungen. „Bis wirklich alles fertig und wieder normal ist, wird es noch zehn Jahre brauchen“, sagt Zeynel. Doch Menschen wie er und Hülya lechzen nach Hoffnung, nach Normalität. Um die Schrecken der Katastrophe zu vergessen. Und um die Schreie der Toten nicht mehr zu hören.

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