„Es war schrecklich, so viele Schreie“

von Redaktion

Auf dem Boden verstreut liegen Schuhe, Rucksäcke und andere Gegenstände der vielen Opfer. © Matthias Balk/dpa

Völlig demoliert: Das Foto zeigt die Wucht, mit der das Auto des Afghanen die Menschen erfasste. © Stache/AFP

Diese Aufnahme aus einem Haus zeigt den Weg, den der Amokfahrer nahm. © Alexa Gräf/dpa

Rettungskräfte brachten die Verletzten, darunter auch Kinder, in verschiedene Münchner Kliniken. © Fischer/dpa

Der Ort des Anschlags: Der gelbe Strich zeigt, wo der Täter in die Menge fuhr.

Peter Schmid (li.) und Udo Kunte arbeiten bei den Stadtwerken München und mussten den Anschlag mitansehen. © Winter

Nur Sekunden nach der Amokfahrt ziehen Polizisten den Täter aus dem Auto und fixieren ihn am Boden. © Screenshot aus X

München – Der Mann in der Seidlstraße ist völlig verstört: „Ich habe gerade gesehen, wie Menschen überfahren worden sind“, sagt er. „Da vorne ist einer voll in unsere Demo reingefahren. Menschen haben geschrien.“ Er stockt und sagt dann leise: „Ich kann nicht mehr – ich muss nach Hause.“

Es sind bittere Momente gestern in der Maxvorstadt: Am Vormittag rast der afghanische Asylbewerber Farhad N. (24) mit seinem weißen Mini Cooper an der Ecke Karlstraße/Seidlstraße in einen Streik-Zug der Gewerkschaft Verdi. Dort laufen vor allem Mitarbeiter der Münchner Stadtwerke in Richtung Stiglmaierplatz – dort sind 2500 Demonstranten für eine Kundgebung angemeldet. Auch Angestellte der städtischen Kitas und der Müllabfuhr sind dabei. Viele sind mit ihren Kindern da. Sie wollen für mehr Lohn demonstrieren – und erleben einen Albtraum. Um 10.30 Uhr fährt der Mini von hinten in die Menge. 30 Menschen werden zum Teil schwer verletzt, unter ihnen zwei Kleinkinder.

Zeugen und Polizei berichten später übereinstimmend, dass Farhad N. stark beschleunigte. Ein Polizeisprecher sagte, er sei mit dem Mini hinter einem Polizeiauto am Ende der Versammlung gefahren. Dann habe er den Streifenwagen überholt und Gas gegeben. Polizisten, die den Zug bewachten, reagierten sofort. Ein Polizist schoss einmal auf den Kleinwagen, dann zogen die Beamten ihn aus dem Auto, drückten ihn bäuchlings auf den Asphalt. Farhad N. wurde leicht verletzt, die Polizeikugel hatte ihn aber nicht getroffen. Die Polizei brachte ihn weg von seinem völlig zerbeulten Mini in einen nahe gelegenen Hinterhof. Dort fixierten und durchsuchten sie ihn. Später wurde der Afghane mit freiem Oberkörper in einen Polizeibus gebracht und abgeführt.

Die Stadtwerke-Mitarbeiter Udo Kunte und Peter Schmid waren ebenfalls zur Demo gekommen und erlebten die furchtbaren Momente hautnah: „Plötzlich herrschte hinter uns Motorenheulen, Räder haben durchgedreht, dann hat es nur noch gescheppert – Bam! Bam! Bam! So dumpfe Schläge. Von den Körpern vermutlich, die da dagegen sind“, erzählen sie. „Dann hat’s einen Knall gegeben. Danach sind Polizisten hergelaufen, haben die Tür aufgemacht und ihn rausgezogen.“ Die beiden sind sich sicher, dass das kein Unfall war, sondern Absicht. „Der ist durch die Polizeisperre durch, da war wohl Platz genug, um durchzufahren. Kurze Gerüchte, es gebe einen Komplizen, dementiert die Polizei.

Auch ein anderer Stadtwerke-Mitarbeiter musste mitansehen, wie der Afghane in die Menschenmenge fuhr. Das sei Absicht gewesen, sagt er. „Ein Polizist hat gleich einen Schuss abgegeben. Wir sind dann nur gelaufen, haben uns alle in irgendwelchen Hauseingängen in Sicherheit gebracht. Es war schrecklich – so viele Schreie.“

Auf der Kreuzung herrschte Chaos. Menschen lagen und saßen blutend da, einige in goldene Rettungsdecken gehüllt. Der Krisenstab der Münchner Ärzte rief den sogenannten MANV-Plan aus – für „Massenanfall von Verletzten“. Mit diesem Plan sind die Münchner Kliniken im Ernstfall auf mehr als 100 Schwerverletzte vorbereitet. Das Konzept für einen Massenanfall von Verletzten sieht vor, dass die Patienten nach einem bestimmten organisatorischen Schema auf größere und kleine Klinken in München verteilt werden. Die Opfer werden so schnell wie möglich an die LMU-Kliniken in Großhadern und in der Innenstadt sowie ins Rotkreuzklinikum gebracht.

Besonders tragisch: Bei dem Anschlag wurden auch eine Mutter und ihr Kind lebensbedrohlich verletzt. Das zweijährige Kind kam in die Haunersche Kinderklinik, die Mutter wurde im Neuro-Kopf-Zentrum im TUM Universitätsklinikum notoperiert. Am Abend bestand für beide unbestätigten Meldungen zufolge nur noch wenig Hoffnung. Ein weiteres schwer verletztes Kind wurde in der Kinderklinik Dritter Orden notoperiert.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, Ministerpräsident Markus Söder und auch Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) eilten so schnell wie möglich zum Tatort, gaben dort eine gemeinsame kurze Pressekonferenz. Die Betroffenheit stand in ihren Gesichtern. Besonders OB Reiter rang um Fassung, denn viele der Demonstrierenden sind Angestellte der Stadt. „Das bedrückt mich sehr“, sagte er. „Heute ist ein schwarzer Tag für München.“

Auch der Sänger Pietro Lombardi reagierte umgehend und sagte sein Konzert gestern in der Olympiahalle ab.

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