In unserem Dorf reden alle Bairisch

von Redaktion

Navigations-Experten auf Bairisch: Wirtin Irmi Thomas sitzt mit CSU-Bürgermeister Max Bertl in der Klosterschänke in Steingaden zusammen. © Klaus Haag

Am Stammtisch treffen sich (v. links) Max Bertl, Fritzi Eicher, Roman Eicher, Marius Hartmann, Matthias Lory, Martin Stückl und Michael Schmid. © Klaus Haag

Fesch in Tracht: Julia und Matthias Lory mit ihren Kindern Eva, Christoph und Baby Frieda. © Klaus Haag

Fronreiten – Das Wort maletta hat nichts mit Lametta zu tun. Es klingt italienisch – und kommt den meisten doch spanisch vor. Nur nicht den Menschen in Fronreiten. Jeder Bewohner in diesem Ortsteil von Steingaden im Kreis Weilheim-Schongau kann dank des Begriffs ein ganz bestimmtes Lebensgefühl in Worte fassen.

Landwirt Matthias Lory, 34, etwa hat sich saletta um 20 Kühe im Stall gekümmert. Saletta hat er gern geplattelt, und saletta sitzt der Feuerwehr-Kommandant gerne am Stammtisch. Saletta heißt so viel wie „sein Leben lang“. Und weil das Bairische genau wie das Hochdeutsche über Possessivpronomina verfügt, lässt sich maletta bestens mit „mein Lebtag lang“ übersetzen.

Für ihr Leben gern wirft sich Familie Lory in ihre Tracht, zum heutigen Tag der Muttersprache eine Ehrensache. Lorys Frau Julia, die siebenjährige Eva und Baby Frieda tragen Dirndl. Der fünfjährige Christoph wie der Papa Lederhosn. Die Gleichung ist einfach: Tracht ist Tradition. Tradition ist Heimat. Und zu beidem gehört der Dialekt. „Ich finde ja das Wort Muttersprache fast schöner. Unsere Eltern haben uns den Dialekt beigebracht und wir geben ihn jetzt an unsere Kinder weiter“, sagt Julia Lory. „Muttersprache ist ein Stück Heimat, egal wo man ist. Mit ihr fühlt man sich wohl.“ Und ihr Mann gibt – bemüht dialektfrei – zu: „Wenn ich ehrlich bin, ist es mir fast nicht möglich, professionelles Hochdeutsch zu sprechen. Auf Terminen am Landratsamt bemühe ich mich etwas.“

In Passau waren die Lorys zuletzt mit den Trachtlern von den Lustigen Oberlandlern Wies unterwegs. Dort gab es keine Sprachbarrieren. Und in ihrem Stamm-Kinderhotel in Kirchdorf bei Kitzbühel auch noch nie. „Ein-, zweimal im Jahr fahre ich mit meiner Mama und den Kindern zum Einkaufen nach München“, erzählt Julia Lory. „Gegenüber einem Verkäufer bemühe ich mich dort schon.“ Derweil beherrscht die Erzieherin Deutsch bestens. „Auf der Realschule in Peißenberg ist damals im Unterricht kein Bairisch gesprochen worden – unter den Lehrern war es fast verpönt“, erzählt sie, bemerkt aber, dass das heute anders ist. Besonders hier in Steingaden, wo die Tochter in die Grundschule geht. „Wir sind 23 Schüler“, sagt Eva. „Bestimmt die Hälfte red Boarisch.“

Nur manches ist eingedeutscht. Eva und Christoph erzählen vom Fangen in der Pause. Papa Matthias aber sagt „Fangalus“ und Mama Julia, die elf Kilometer Luftlinie in Schönberg aufgewachsen ist, sagt „Fangales“. „Das lassen wir durchgehen“, witzelt Matthias Lory, der neben der Landwirtschaft bei einer großen Firma arbeitet. „Dort bin ich als Hausmeister angestellt, nicht als Facility Manager. Es gibt Wörter, da bin ich streng und bremse die Kinder auch ein.“ Eva weiß gleich, worauf ihr Papa anspielt: „Tschüss soll ich nicht sagen.“ Besser: „Pfiad di“, im Plural „pfiad enk“. Die Lory-Kinder naschen außerdem Guatzler, keine Bonbons. Und auf den Tisch kommen Bodenbira, keine Kartoffeln.

Ja, die Muttersprache der Fronreitner ist schon eine spezielle. Zur Gemarkung gehören 25 Weiler. In Fronreiten selbst stehen 26 Häuser, darunter 16 Höfe. Nur ein paar Schritte vom großen gelben Haus der Lorys entfernt liegt das Feuerwehrhaus. Dort tagt jeden Donnerstag der Stammtisch – Feuerwehrler, Trachtler, Schützen, Männer und Frauen aus dem Dorf kommen hier zam. „Es ist das Dialekt-Epizentrum“, schwört der Steingadener Bürgermeister Max Bertl. Er selbst wohnt am Gogel, einem der 25 Fronreitner Weiler. Vom Feuerwehrhaus und Lorys Hof sind es nur ein paar hundert Meter zur Landkreisgrenze zum Ostallgäu. Fiassa, also Füssen, ist nicht weit weg. Für Dialekt-Kenner bedeuten hier aber schon drei, vier Kilometer die Welt.

Alla id – immer nicht – sind die Fronreitner Allgäuer. Aber auch keine Schwaben oder Werdenfelser. „Wir sind Fronreitner. Wir reden Oberbairisch mit Allgäuer Einschlag“, sagt Kommandant Lory, die Stammtisch-Runde nickt. Der Eicher Fritzi, 28, trägt ein Kappi mit Edelweiß-Stickerei und erzählt am Stammtisch von einer Skitour mit seiner Freundin, einer Partenkirchnerin. „Hovele, a Gähwinde!“, habe sie nicht verstanden. Übersetzt heiße das: „Vorsicht, Schneewehe!“ Passiert ist den zwei trotz Verständigungsproblem nichts.

Im Wortschatz des Eicher Fritzi gibt es zig Wörter, die seine Freundin schon mal stutzen haben lassen: heel für glatt, lind für leicht, Stua für Stein. Nicht nur maletta und saletta sorgen schon in Nachbargemeinden für Fragezeichen in den Gesichtern. Auch sobba oder kumba – übersetzbar mit „Das sollten wir tun“ und „Das könnten wir tun“. Es gibt hier aber auch Wörter, die Beziehungskrisen auslösen könnten: Wenn der Fronreitner nämlich etwas schön findet, sagt er nicht „schee“, sondern „schia“ – und das kann doch gefährlich ähnlich zu „schiach“, also hässlich, klingen.

Den Fronreitner Stammtisch lässt sich Bürgermeister Max Bertl selten entgehen. Wie Julia Lory stammt auch er ursprünglich aus einer Nachbargemeinde, aus Peiting, und musste in Steingaden seinen Wortschatz noch mal erweitern. „Der Steingadener, speziell die Leute in Fronreiten, reden scho recht kernig“, sagt der 31-Jährige. Die Zahl 31 spricht er übrigens „ursa-dreisgt“ aus. „Dialekt is für mi Amtssprache, übrigens a, wenn i am Landtag zu Gast bin. Richtig sauer werd i, wenn jemand einem unterstellt, ungebildet oder dumm zu sein, weil man Dialekt red.“ Grundlegend sei laut Bertl für „nein“ nicht „na“, sondern „no“ zu verwenden. Und für „nicht“ „id“. „Geht ned“ heißt hier „god id“ – das hat er im Gemeinderat gelernt.

Präpositionen sind im gesprochenen Dialekt was für Fortgeschrittene. Steingaden besteht aus drei Ortsteilen und die aus über 50 Weilern. Es gibt also gut 50 verschiedene Wege zu beschreiben, wohin man unterwegs ist. „Man fahrt zum Beispiel ind Wies nei“, erklärt Bertl. Im Weiler Wies steht die bekannte Wieskirche. „Von Steingaden aus fahrt ma aber auf Fronreiten nauf.“ Das Spiel lässt sich ewig weiter treiben: Es geht auf Urspring naus, auf Oberammergau nei. „Aber auf Landsberg fahr ma na“, sagt Irmi Thomas, ein Fronreitner-Original, daheim im Weiler Litzau. Seit 16 Jahren ist sie Wirtin der Klosterschänke und musste schon vielen Gästen Wege über schmale Straßerl erklären – natürlich unter Verwendung der korrekten Präpositionen. „Das hat sich maletta bewährt“, sagt die 41-Jährige.

Da ist es wieder, dieses maletta, das eigentlich viel mehr als „mein Lebtag lang“ heißt. „Das ist ein ganz spezielles Wort, das es nur hier gibt“, sagt Bürgermeister Bertl. „Die Bedeutung geht tiefer als die Übersetzung – das beschreibt, wie geerdet die Menschen hier in ihrer Heimat sind.“ Muttersprache verwurzelt.

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