Die Helfer im Schatten der Bundeswehr

von Redaktion

Noah (20) will sich nach seiner Erfahrung beim Heimatschutz auch bei der Bundeswehr verpflichten. © Max Wochinger

Angriff übers offene Feld: Das geht nicht gut – und der Anschiss vom Hauptmann lässt nicht auf sich warten. © Max Wochinger

Christoph (23) will zurück in den Elektrikerberuf und dort seinen Meister machen. © Max Wochinger

Die Verteidigung steht: Hinter Bäumen warten die Heimatschützer auf den bevorstehenden Feuerangriff. © Wochinger

Bildet junge Freiwillige aus: Hauptmann René S. im Lager seiner Truppe während einer Übungspause. © Max Wochinger

Roth – Bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt robben die jungen Männer und Frauen über den Waldboden – und schießen auf feindliche Einheiten. Sie sind Freiwillige im Heimatschutz. Mit Platzpatronen proben sie in einem Wald in Roth im Süden von Nürnberg den Ernstfall. Werden Deutschland oder seine Verbündeten angegriffen, sollen sie in ihrer Region wichtige Infrastruktur schützen. Notfalls auch mit dem Sturmgewehr G36. Eine Vorstellung, an die vor ein paar Jahren kaum jemand gedacht hat. Doch der Angriff Russlands auf die Ukraine hat vieles verändert.

Unter dem Motto „Dein Jahr für Deutschland“ bietet die Bundeswehr den freiwilligen Wehrdienst an. Der Heimatschutz ist zur Entlastung der Bundeswehr da, die ihn als „Bindeglied zwischen Bundeswehr und Gesellschaft“ beschreibt. Die bezahlte militärische Ausbildung dauert sieben Monate und richtet sich an junge Menschen, die im Krisenfall in ihrer Region helfen wollen: bei Naturkatastrophen wie Hochwasser, Pandemien oder Notstandslagen wie einem flächendeckenden Blackout. Aber eben auch im Kriegsfall. Front- oder Auslandseinsätze sind für den Heimatschutz jedoch nicht vorgesehen.

Nach der Ausbildung müssen die Freiwilligen eine fünfmonatige Dienstzeit als Reservisten absolvieren, die in einem Zeitraum von sechs Jahren abzuleisten ist. Im Winter 2019 unterstützten bayerische Heimatschutzkräfte beispielsweise bei der Schneekatastrophe am Alpenrand, während der Corona-Pandemie halfen Reservisten der Heimatschutzkompanien beim Betrieb einer Corona-Teststrecke. Mehr als 10 600 Soldatinnen und Soldaten gibt es bundesweit in der territorialen Reserve, die Bundeswehr will bis Oktober die Zahl der Heimatschutz-Regimenter von derzeit vier auf sechs erweitern. Bayern hat seit April 2022 ein Regiment. Es war das erste in Deutschland.

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist ein Einsatzbereich stärker in den Fokus gerückt: Sicherungsaufgaben im Bündnis- oder Verteidigungsfall. Dann soll der Heimatschutz Kasernen bewachen, auf Streife gehen, Auto- und Personenkontrollen durchführen, Infrastruktur wie Elektrizitätswerke schützen. Das sei wichtig, betont die Bundeswehr, denn die regulären Soldaten wären im Ernstfall durch andere Aufgaben gebunden, vor allem an der Frontlinie.

Dennoch: Wenn es ernst wird, müssen auch die Freiwilligen im Heimatschutz gefechtsbereit sein, weswegen die dritte Kompanie des Heimatschutzregiments 1 heute durch den Wald in Roth schleicht. 41 Freiwillige sind an der Übung beteiligt. Hauptmann René S. erklärt: „Die Gruppe im Angriff kommt über die offene Flanke, die Verteidigung im Wald soll die Linie halten. Sie soll den Feind mit einem Feuerüberfall komplett bekämpfen.” Bei einem Feuerüberfall wird geballt das Feuer eröffnet. „Die 200 Meter zum Feind sind die optimale Entfernung dafür“, sagt der Hauptmann. Das Gefecht wirkt erschreckend echt, beteiligt sind auch abgebrühte Soldaten, die in der Panzerdivision in Afghanistan oder im Sudan gedient haben.

Im Wald ist jetzt Stille. Die Angreifer schleichen langsam heran, die Verteidiger lauern hinter den Bäumen, die Gewehre fest an die Schultern gedrückt. Dann eröffnen die Angreifer das Feuer: Die Salven rattern durch den Wald, Magazin um Magazin mit Platzpatronen wird leer geschossen. Nachladen, weiterfeuern. Hauptmann René S. geht durch die Reihen der Angreifer und tippt manche an. Das bedeutet, dass sie getroffen wurden und zu Boden sinken sollen.

Per Funk meldet die Verteidigung: „Feinde bekämpft: neun.“ Nachfrage des Hauptmanns: „Bekämpft oder vernichtet?“ Antwort: „Augenscheinlich vernichtet.“ Ein Erfolg. Die Angreifer waren nicht siegreich, Hauptmann S. faltet sie zusammen: „Der Angriff frontal über die Freifläche war absolut unzweckmäßig. Man kann nicht einfach in eine Stellung reinrennen, das überlebt keiner. Ich will so etwas nie wieder sehen.“

80 Prozent der Freiwilligen seien zwischen 17 und 23 Jahre alt, sagt Hauptmann René S. „Die Ausbildung im Freiwilligen Wehrdienst ist eine Top-Möglichkeit für die jungen Menschen, den Charakter zu bilden.“ Und weil sie auf dem Weg zu den Kasernen Uniform tragen, sei das Programm auch „gut für die öffentliche Wahrnehmung“. Die Motivation der jungen Leute sei hoch, sagt der Hauptmann. Zwar steige ein Viertel vorzeitig aus dem Programm aus, wer aber die dreimonatige Grundausbildung absolviert habe, bleibe meist bis zum Schluss.

Die Ausbildung verlangt den jungen Menschen viel ab: Disziplin, Durchhaltevermögen, körperliche Ausdauer, mentale Stärke. Die Freiwilligen in Roth quälen sich in der Nacht mit schwerer Ausrüstung zwölf Kilometer durch den Wald – wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben. Geschlafen wird in provisorischen Zelten, bei Regen und Minusgraden.

Wieso man sich das antut? Der 20-jährige Noah will „was für unser Land tun“ und die Kameradschaft in der Gruppe erleben. „Man profitiert ja sehr von dem Land, in dem man lebt, zum Beispiel von der Infrastruktur. Ich will jetzt Deutschland einfach etwas zurückgeben.“

Noah hat im vergangenen Jahr sein Abitur abgeschlossen, war sich aber nicht sicher, was er damit anfangen soll. Auch eine Karriere bei der Bundeswehr schwebte ihm vor. Mit dem Freiwilligenprogramm wollte er in den Militärdienst reinschnuppern. Jetzt, nach vier Monaten Ausbildung, steht der junge Mann aus Karlsruhe im Wald in Roth, mit Tarnfarbe im Gesicht und dem Sturmgewehr in den Händen, und ist sich sicher: Nach dem Heimatschutzprogramm will er eine Offizierslaufbahn als Mediziner antreten. „Es macht hier einfach Spaß und man lernt sehr viel.“

Einer seiner Kameraden ist Christoph aus München. Der 23-Jährige ist ausgebildeter Elektriker. Nach der Lehre wollte er die Bundeswehr kennenlernen. „Ich will die sieben Monate an Erfahrung mitnehmen und dann wieder zurück und meinen Meister machen.“ Als Reservist will er später neben seinem Beruf im Katastrophenschutz mithelfen. Der Zwölf-Kilometer-Marsch hat ihm Spaß gemacht. „Es ist cool, an seine Grenzen zu gehen und sich zu überwinden.“

Vielen Freiwilligen wie Christoph rückte der Heimatschutz mit dem Ukraine-Krieg ins Bewusstsein. „Der Krieg hat mir gezeigt, dass es auch uns treffen könnte. Und ich finde, dass Deutschland es wert ist, verteidigt zu werden“, sagt er. Den 20-jährigen Noah lässt der Einsatz an der Waffe nicht kalt. „Wir schießen hier ja nicht mit scharfer Munition, aber wenn ich das Gewehr in der Hand halte, habe ich die Gedanken immer im Hinterkopf, dass man die Waffe vielleicht eines Tages doch benutzen muss.“

Dass man eine Waffe in der Hand halte, betont auch Hauptmann René S. Was das im Ernstfall bedeute, damit müsse sich jeder Freiwillige auseinandersetzen, sagt er. Am Ende der Ausbildung könnten die Freiwilligen alles schützen, was die Bundeswehr beauftrage. „Doch von Kriegsbereitschaft sind die Freiwilligen weit entfernt.“ Fronteinsätze gehören ohnehin nicht zum Plan.

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