Musste die berühmte Zelle selbst erst suchen: Clemens Schmid (43) leitet die JVA Stadelheim seit Sommer 2024. © Sigi Jantz
Die Hitler-Zelle im Nordbau: Auf dem Foto ist es das Fensterpaar in der Mitte des Fotos im oberen Stockwerk. © Sigi Jantz
Im Gefangenenbuch ist Adolf Hitler im Jahr 1922 unter der laufenden Nummer 997 gelistet (rot umrandet). © Sigi Jantz
Anton Graf von Arco auf Valley erschoss Ministerpräsident Kurt Eisner am 21. Februar 1919. © Michael Westermann
Kurt Eisner rief nach seiner Haft in Stadelheim den Freistaat Bayern aus und setzte König Ludwig III. ab. © Keystone
Adolf Hitler saß wegen des gescheiterten Putsches im November 1923 auch in der Feste Landsberg ein. © dpa
Ludwig Thoma, bayerischer Schriftsteller, bekam sogar Zigarren und Wein in seiner Zeit in Stadelheim. © Keystone
Nicht mehr wieederzuerkennen: Wo früher Adolf Hitler einsaß, werden heute Häftlinge behandelt: Die frühere Zelle 70 gehört jetzt zur Krankenabteilung der Münchner Justizvollzugsanstalt Stadelheim. © Sigi Jantz
München – Um die Geschichte von Stadelheim zu verstehen, muss man ganz unten anfangen, im Keller. Ein Beamter schließt die vergitterte Eisentür auf, dahinter liegt ein Dokumentationsraum: Eine alte Zelle ist darin nachgebaut, Gedenktafeln erklären die dunklen Zeiten des Gefängnisses, mittendrin steht eine Vitrine. „Adolf Hitler hat sich bei uns als Schriftsteller ausgegeben“, sagt JVA-Chef Clemens Schmid (43). Vor ihm liegt das dicke Gefangenenbuch, laufende Nummer 997. Datiert auf den 27. Juli 1922 – Hitlers Entlassungstag aus Stadelheim, dem größten Gefängnis in Bayern, aktuell mit 1200 Insassen.
Landfriedensbruch brachte den späteren Diktator in München hinter Gitter. Genauer: in Zelle 70. Hitler trug die Gefangenennummer 1373. „Er hatte bei seiner Aufnahme einen Revolver und 22 Schuss Munition dabei“, erzählt Schmid. „Beides wurde ihm nach seiner Entlassung wieder ausgehändigt. Das wäre heute natürlich unvorstellbar.“ Drei Monate Haft sollte Adolf Hitler ab dem 24. Juni 1922 verbüßen, nachdem er mit Anhängern die öffentliche Rede eines Gegners im Löwenbräukeller mit Gewalt verhindert hatte. Doch zwei Monate Gefängnis wurden ihm erlassen. Zehneinhalb Jahre später, im Januar 1933, wurde Hitler Reichskanzler. Und ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte nahm seinen Lauf.
Die Zelle war für höhere Stände reserviert
„Er war sicher der aus heutiger Sicht bedrückendste Gefangene in der JVA München“, sagt Clemens Schmid, der unseren Reporter an diesem Vormittag durch seine Anstalt führt. Quer durch den Zellentrakt, in dem gerade Aufschluss ist: Junge Männer lehnen an eisernen Türrahmen oder lungern auf 80-Zentimeter-Pritschen. Es riecht nach Rauch, Muff und Schweiß. In Stadelheim ist Schmid der Herr der Schlüssel: Sie klimpern beim Gehen, alle 30 Sekunden klackert er ein neues Schloss auf, massive Riegel verschieben sich in den Stahltüren, dann knarzt es kurz. „Hier entlang“, sagt der Chef.
Es geht in den sogenannten Nordbau, der älteste Teil des Gefängnisses. Seit 1894 in Betrieb. „Das Gebäude steht seit damals nahezu unsaniert da“, sagt Clemens Schmid, fast zwei Meter groß und seit Sommer 2024 neuer Anstaltsleiter. Im vorderen Bereich seien heute keine Hafträume mehr, sondern Büros der Ärzte, Untersuchungsräume und Krankensäle für Gefangene. Über abgewetzte Steinstufen geht es in die oberen Stockwerke. Dort angekommen tut sich eine andere, neue Welt auf: Plötzlich Fischgräten-Parkett, frische weiße Wände. Hinter einer schmalen Holztür liegt ein Behandlungszimmer mit Fliesen, Schreibtisch und einer Liege. Wo früher Adolf Hitler eingeschlossen wurde, werden heute Häftlinge behandelt oder per Ultraschall untersucht. Die berühmte Zelle 70: Hier haben jetzt Mediziner das Sagen.
Eigentlich stimme die Zahl ja gar nicht, verrät Schmid. „Intern sprechen wir immer von Zelle 71.“ Denn der Raum sei einst geteilt worden. Aber der Mythos trug sich eben durch die Zeit, selbst heute noch weist die Stadt München auf die Zelle 70 hin, mit der so viele prominente Namen verbunden seien – und so viel bayerische Geschichte, die mehr als 100 Jahre später noch sagenumwoben ist. Kurt Eisner saß etwa in dieser Zelle 70, der erste Ministerpräsident des Freistaats und Anführer der Novemberrevolution in München. Verhaftet nach dem Januarstreik 1918, war er ab Sommer für mehrere Monate in Stadelheim. Und danach dann auch sein Mörder: Anton Graf von Arco auf Valley, der Eisner am 21. Februar 1919 auf dem Weg in den Landtag erschossen hatte.
„Die Zelle war früher für höhere Stände reserviert“, erklärt der Leiter der Sicherungsgruppe, sein Name soll nicht in der Zeitung erscheinen. Über die Knast-Historie weiß er viel: „Zu dieser Zeit hat man in Stadelheim noch unterschieden zwischen normalen Bürgern und denen mit höherem sozialen Status.“ Ludwig Thoma (1867–1921) etwa, der wie Hitler als Schriftsteller im Gefangenenbuch steht. Und der erste prominente Häftling in Zelle 70 war. 1906 saß Thoma für sechs Wochen ein – wegen Beleidigung von Vertretern der Sittlichkeitsvereine.
Was heute undenkbar ist, war damals üblich: „Er hatte eine ganz klare Sonderbehandlung erfahren“, erklärt der Beamte. „Ludwig Thoma hat Zigarren bekommen, dazu Lesematerial wie Zeitungen und sogar eine Flasche Rotwein pro Tag.“ Ja, er hatte hinter Gittern sogar „seinen persönlichen Beamten, der im Gefängnis für ihn zuständig war. Das war damals so.“ Geblieben aus dieser Zeit ist das von Thoma verfasste „Stadelheimer Tagebuch“, 103 Seiten stark.
Den Aufzug bedient der Knast-Chef mit dem Transponder, es geht hinunter in den Hof. Einzelne Häftlinge sonnen sich oberkörperfrei in der Frühlingssonne. Schmid will noch einmal über Hitler sprechen: Die frühere Zelle, die kenne fast niemand. „Dass diese Gefangenen hier in der Anstalt waren“, sagt er, „das wissen relativ viele Bedienstete.“ Wo der Haftraum liegt, aber nicht. „Ich musste mich auch erstmal im Haus durchfragen.“ Der Ort solle keinen Sonderstatus bekommen oder von bestimmten Häftlingen glorifiziert werden können, das ist dem Knast-Chef wichtig. „Aber Geschichte soll eben auch nicht verschwiegen werden“, sagt Schmid.
Er zeigt alte Aufnahmen der Anstalt: 1906, als Ludwig Thoma einsaß, war die Gefängnismauer kaum so hoch wie das Erdgeschoss. Die Erweiterung des Geländes um 1930. Und 1965: Da wurde die hohe Mauer um Stadelheim gebaut, „rundherum war damals Wiese“. Heute liegen Wohnviertel um die Anstalt, aber in der Stadelheimer Straße sieht man noch den alten Zellentrakt, in dem sie alle saßen: Hitler, Eisner, Graf Arco. Um Geschichte erlebbar zu machen, bleibt im Keller ein Dokumentationsraum reserviert, der nur wenigen zugänglich ist. Hitlers Unterschrift ist dort noch zu lesen, klein und unsymmetrisch. 850 Mark und 95 Pfennige wurden ihm einst ausgehändigt, als er Stadelheim verließ.