Dortmund – Am 24. März 2015 ist für viele Familien nichts mehr, wie es vorher war. Trauma-Experte Christian Lüdke erklärt, warum es in diesem Fall noch schwerer ist, mit dem Verlust fertig zu werden.
Herr Lüdke, was haben Sie damals erlebt?
Ich habe einige Angehörige und Kollegen psychologisch betreut, zunächst in der ersten Schockphase und dann noch drei bis sechs Monate. Meine Aufgabe war vor allem in den ersten zwei Wochen, die Hinterbliebenen zu stabilisieren, ihnen Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln. Später ging es auch darum, Ressourcen wie soziale Kontakte zu mobilisieren. Der Absturz war eine menschengemachte Katastrophe. Die Sinnlosigkeit der Tat hat es für die Hinterbliebenen extrem schwierig gemacht.
Erklären Sie das bitte.
Eine Naturkatastrophe ist höhere Gewalt; der Natur kann man im Nachhinein die Schuld geben – auch wenn das Erlebnis schrecklich und lebensverändernd bleibt. Bei diesem von einem Menschen absichtlich herbeigeführten Absturz bleibt die Frage nach dem Warum und ob er nicht hätte verhindert werden können. Bei dem Absturz wurden zudem zwei Lebensgesetze gebrochen: dass Kinder vor ihren Eltern und außerdem einen unnatürlichen Tod gestorben sind. Eltern sind nach so einem Ereignis untröstlich – ein Leben lang. Diesen Schmerz und Verlust kann man nicht heilen, auch nicht als Psychotherapeut.
Zerbrechen Familien an so einem Unglück?
Ja, manchmal, wenn sie sich in gegenseitige Vorwürfe verstricken, oder wenn sich ein Elternteil in den Alkohol flüchtet. Manche Angehörige sterben auch buchstäblich an gebrochenem Herzen. Aber manchen gelingt es, eine neue Perspektive für sich zu erarbeiten und einen neuen Sinn im Leben zu finden. Sie gründen beispielsweise einen Verein, der sich an andere Hinterbliebene richtet.
Sie haben Angehörige an den Unfallort begleitet.
Viele sind damals an den Unfallort gereist, um ihren verstorbenen Angehörigen nahe zu sein, die Atmosphäre zu spüren. Das ist sehr wichtig, um das Geschehen anzunehmen.
2014, verschwand ein Flugzeug der Malaysia Airlines mit 239 Menschen an Bord vom Radar. Bis heute gilt es als verschollen.
So zynisch das klingt: Es ist wichtig, die schreckliche Gewissheit zu haben, dass Angehörige tot sind. Sonst gibt es immer noch eine Resthoffnung, zum Beispiel, dass die Maschine entführt wurde und die Passagiere noch irgendwo leben. Um irgendwie abzuschließen, braucht es Gewissheit. Die sterblichen Überreste der Passagiere des Germanwings-Flug konnten bestattet werden.
Der Germanwings-Pilot soll schwere Depressionen gehabt haben. Erklärt das die Tat?
Es gibt 170 verschiedene psychische Störungen. Bei allen geht es um Beziehungsstörungen. Ein psychisch gestörter Mensch kann jemand mit einer hohen Planungsfähigkeit sein, der ein Vorhaben gezielt plant und umsetzt. Eine Störung gibt niemanden das Recht, sich in anderer Menschen Leben einzumischen und sie sogar zu töten. Anders als bei Menschen in einer Psychose mit Wahnvorstellungen wissen beispielsweise depressive Menschen sehr gut, was sie tun.
Kann man die Depression frühzeitig erkennen?
Fast immer – wenn das Umfeld genau hinschaut. Zum Beispiel, dass der spätere Täter zunehmend ironisch oder sarkastisch wird, Dinge sagt wie „ihr werdet schon sehen, „das werdet ihr noch alle bereuen“ oder „ihr werdet noch an mich denken“. Viele ziehen sich auch zurück und werden sonderbar. Sie senden also Signale, aber die werden nicht immer wahrgenommen – und wenn doch, nicht immer ernst genommen. Man sollte solche Veränderungen aber mutig ansprechen. Man muss sich trauen, sich womöglich lächerlich zu machen – und vor allem braucht man keine Angst zu haben, schlafende Hunde zu wecken. Das passiert nämlich nicht.