Andreas Lubitz riss 149 Menschen mit in den Tod. © EPA
Ulli Wessel, ehemaliger Schulleiter des Gymnasiums. © dpa
Auf einer Gedenktafel im Pausenhof erinnert das Joseph-König-Gymnasium an die 18 Opfer der Schule. © Ina Fassbender/AFP
Le Vernet im März 2015: Rettungskräfte bergen die Leichen der Opfer. Die Trümmer des Flugzeugs sind weit verstreut. © AFP
Haltern am See/Le Vernet – Den Moment, als er den Eltern die furchtbare Gewissheit überbringen muss, wird Schulleiter Ulrich Wessel nie vergessen. In einem Klassenzimmer des Gymnasiums in Haltern am See am Nordrand des Ruhrgebiets in Nordrhein-Westfalen sitzen Mütter und Väter der Kinder, die auf dem Rückweg von einem Schüleraustausch in Spanien waren. Gebucht auf Flug 4U9525 von Barcelona nach Düsseldorf. In den Nachrichten laufen längst in Endlosschleife Bilder von einem zerschellten Flugzeug in den französischen Alpen. Dann bringt die Passagierliste Gewissheit: Die 16 Schülerinnen und Schüler sowie ihre beiden Lehrerinnen waren an Bord. Niemand hat überlebt. Als Wessel mit dieser Information zu den Eltern kommt, stürzen Welten ein. Zehn Jahre ist das jetzt her. „Das Entsetzen war unvorstellbar“, erinnert sich Wessel.
Der Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 um 10.41 Uhr ist eine der größten Katastrophen in der europäischen Luftfahrtgeschichte. Wegen der 150 Opfer. Aber auch wegen der Absturzursache. Für die Ermittler in Frankreich und Deutschland besteht bis heute kein Zweifel, dass der 27-jährige Copilot Andreas Lubitz die Maschine absichtlich in das Felsmassiv bei Le Vernet steuert, weil er seinem Leben ein Ende bereiten will – mit 149 unschuldigen Menschen an Bord.
Lubitz nutzt den Moment, als der Pilot auf die Toilette muss, verriegelt das Cockpit und verstellt die Reiseflughöhe von 38 000 Fuß auf die tödliche Tiefe von 100 Fuß, nur rund 30 Meter. Im Sinkflug erhöht er mehrfach die Geschwindigkeit. Auf den Tonaufzeichnungen des Flugschreibers ist zu hören, wie der ausgesperrte Pilot vergeblich versucht, die Tür zu öffnen. Passagiere schreien. „Diese Aktion kann nur vorsätzlich erfolgen“, sagt der zuständige französische Staatsanwalt Brice Robin damals.
In Lubitz‘ Düsseldorfer Wohnung finden Ermittler Belege für massive gesundheitliche Probleme des 27-Jährigen, der aus Montabaur in Rheinland-Pfalz stammt. Lubitz sei „psychisch krank“ gewesen, sagt Robin. „Absolut fluguntauglich.“ Schon 2008 muss er wegen einer Depression seine Pilotenausbildung in den USA unterbrechen. Die Lufthansa weiß von der Depression, die Lubitz aber als überwunden darstellt – was nicht stimmt. Wegen Sehstörungen und der Angst zu erblinden, konsultiert er in den fünf Jahren vor dem Absturz laut den Ermittlern 41 Ärzte. Einige diagnostizieren Angststörungen, sehen Lubitz als fluguntauglich. Wegen der ärztlichen Schweigepflicht dringt das aber nicht durch. Eine Krankschreibung, die den Tag des Todesflugs umfasst, enthält er der Lufthansa vor. In den Tagen vor dem Absturz recherchiert er Methoden der Selbsttötung. In seinem Mülleimer liegt eine Patientenverfügung. Thesen zu möglichen technischen Problemen des Flugzeugs, die auch von Lubitz‘ Vater verbreitet werden, weisen die Ermittler zurück.
Wie konnte es so weit kommen? Strafrechtlich hat sich nach Überzeugung der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft niemand schuldig gemacht – nicht die Fliegerärzte, auch nicht der flugmedizinische Dienst der Lufthansa. Einige Angehörige haben eine Zivilklage gegen das Luftfahrtbundesamt angestrengt, über die noch nicht verhandelt wurde. Konsequenzen wurden gezogen. So soll jetzt eine europaweite flugmedizinische Datenbank verhindern, dass Piloten unbemerkt viele Ärzte konsultieren, um ein Tauglichkeitszeugnis zu bekommen. Neu sind auch verdachtsunabhängige Kontrollen der Crews auf Alkohol, Drogen, Medikamente.
Die Eltern der Spanisch-Austauschgruppe aus Haltern beschäftigen solche Fragen nur noch selten. Sie teilen bei ihren monatlichen Treffen lieber schöne Erinnerungen, erzählen von ihren Kindern, weinen manchmal auch noch gemeinsam. „Jetzt ist es schon das zehnte Jahr, und der Schmerz sitzt noch genauso tief. Man wacht damit auf, und man geht damit zu Bett“, erzählt Engelbert Tegethoff. Seine Tochter Stefanie war 33 und eine der beiden Lehrerinnen im Flieger. Sie war frisch verlobt, wollte eine Familie gründen. „Das eigene Kind zu verlieren, das ist unvorstellbar“, sagt Tegethoff.
Am Joseph-König-Gymnasium toben Schüler auf dem Schulhof, direkt neben einer Gedenktafel, die an die 18 Opfer der Schule erinnert. Der Ort wurde bewusst gewählt. „Wir wollten die Katastrophe in den Schulalltag mit reinnehmen, aber auch keine Stelle schaffen, an der man vor Trauer erstarren muss“, sagt Wessel. Neben den Namen brennt eine Kerze. Der Hausmeister sorgt dafür, dass das Licht nie erlischt. Auch nach zehn Jahren nicht.
Der zehnte Jahrestag ist für viele Angehörige ein besonders aufwühlender Moment. Viele werden die Einladung der Lufthansa annehmen und nach Le Vernet zum Ort des Absturzes in den französischen Alpen reisen. In Haltern werden sich Schüler und Lehrer des Joseph-König-Gymnasiums an der Gedenktafel versammeln und weiße Rosen niederlegen. Ringsum läuten um 10.41 Uhr die Kirchenglocken, das Leben in der Stadt steht dann still. So wie jedes Jahr am 24. März.