„Ich werde diesen Krieg gewinnen“

von Redaktion

Oppositionsführer Ekrem Imamoglu trotz Haft zum Kandidaten gekürt – 1133 Festnahmen bei Massenprotesten

Staatsgründer Atatürk als Symbol des Widerstands. © AFP

Türkische Polizisten nahmen Demonstranten fest. © AFP

Sonntagnacht in Istanbul: Teils vermummte Demonstranten forderten die Freilassung von Ekrem Imamoglu und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. © Yasin Akgul/AFP

Istanbul/Berlin – Nach der Festnahme von Oppositionsführer Ekrem Imamoglu gehen die Proteste in der Türkei weiter. Polizei und Demonstrierende geraten zunehmend aneinander, die Zahl der Festnahmen steigt. Die Bundesregierung hat die Inhaftierung und vorläufige Absetzung des Istanbuler Bürgermeisters gestern scharf kritisiert.

Vor allem in Istanbul kam es zu turbulenten Szenen. Zehntausende versammelten sich am Wochenende, um für die Freilassung Imamoglus zu demonstrieren. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, Demonstranten warfen Steine, Stöcke, zündeten Feuerwerkskörper. Nach offiziellen Angaben wurden 1133 Menschen wegen „illegaler Demonstrationen“ festgenommen, bei Razzien wurden zudem zehn Journalisten und Pressefotografen festgesetzt. Die Mediengewerkschaft Disk-Basin-Is sprach von einem „Angriff auf die Pressefreiheit und das Recht des Volkes, die Wahrheit zu erfahren“.

Ekrem Imamoglu ist der größte politische Rivale des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan. Und der scheint alles daranzusetzen, den beliebten Bürgermeister von Istanbul kaltzustellen. Wegen angeblicher Korruption sitzt Imamoglu im Silivri-Gefängnis in Untersuchungshaft und wurde als Bürgermeister suspendiert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Die von der Staatsanwaltschaft angestrebte Anordnung von U-Haft wegen Terrorismus-Vorwürfen lehnten die Richter ab.

Trotz der Inhaftierung kürte ihn seine Partei CHP am Sonntag zum Präsidentschaftskandidaten. Zudem gaben 13,2 Millionen Türken, die nicht der CHP angehören, ein Solidaritätsvotum für ihn ab. Ein Zeichen des Rückhalts für Imamoglu, der in einer von Anwälten übermittelten Botschaft erklärte.: „Ich bin hier. Ich habe eine weiße Weste und sie werden mich nicht beschmutzen können. Ich werde keinen Zentimeter zurückweichen. Ich werde diesen Krieg gewinnen.“

Das Vorgehen ist der Höhepunkt einer Flut juristischer Verfahren gegen den beliebten Oppositionspolitiker. Imamoglu hatte 2019 überraschend die Bürgermeisterwahl in Istanbul gewonnen. Die Wahl wurde annulliert, drei Monate später gewann er noch deutlicher. Der Sieg war eine bittere politische Niederlage für Erdogan. Dessen islamisch-konservative AKP hatte zuvor 25 Jahre lang die Millionenstadt regiert. Bei der Bürgermeisterwahl 2024 gewann Imamoglu erneut. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, hatte Erdogan selbst einmal gesagt. Auch er hatte seine Karriere als Bürgermeister von Istanbul begonnen.

Für viele Türken ist Imamoglu der Hoffnungsträger für einen politischen Wandel. Der 53-Jährige ist charismatisch, ein guter Redner und einer der beliebtesten Politiker des Landes. Doch seit Jahren wird er ausgebremst. Bei der Präsidentschaftswahl 2023 konnte er aufgrund eines Gerichtsverfahrens wegen angeblicher Beamtenbeleidigung nicht antreten. Die nächste Wahl steht 2028 an. Obwohl er es laut Verfassung nicht darf, liebäugelt Erdogan mit einer weiteren Amtszeit, für die er die Verfassung ändern lassen müsste. Dass Imamoglu, studierter Betriebswirt, jetzt auch der Hochschulabschluss aberkannt wurde, dürfte kein Zufall sein. Ein Hochschulabschluss ist in der Türkei Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur.

Politikexperte Berk Esen von der Sabanci-Universität in Istanbul sieht in dem Vorgehen „einen Staatsstreich gegen die wichtigste Oppositionspartei, mit weitreichenden Folgen für den politischen Kurs der Türkei“. Bundeskanzler Scholz (SPD) äußerte sich über seinen Sprecher Steffen Hebestreit deutlich. Die Inhaftierung sei „absolut inakzeptabel“ und „ein schlechtes Zeichen für die Demokratie in der Türkei“. Das SPD-Präsidium fordert die sofortige Freilassung. Der außenpolitische Unions-Sprecher Jürgen Hardt (CDU) sprach von einem „Schritt in Richtung Autokratie“. Erdogan beraube Imamoglu seiner demokratischen Rechte“. Die EU schloss gestern angesichts der Entwicklungen eine Absage erst kürzlich beschlossener Gespräche über den Ausbau der Zusammenarbeit nicht aus.
WHA

Artikel 6 von 7