Das nächste Land in Putins Würgegriff

von Redaktion

Georgien kämpft um Demokratie und Menschenwürde, doch es sieht nicht gut aus

Der Lehrer Simon protestiert Abend für Abend für Demokratie. © Claudia Möllers

Die Polizei brach ihm die Nase: der Journalist Alexandre Keshelashvili. © CPJ

Gewalttätige Proteste gab es zuletzt am 31. März in der Hauptstadt Tiflis. © dpa

Mehr als 700 Kilometer lang ist die Grenze Georgiens zu Russland. © Grafik: MM/Lobinger

Sie demonstrieren: Elene Devidze (22) für ihren inhaftierten Bruder Mate und Marisi Kouskhidze (63) für Sohn Tornike. © Claudia Möllers

Tbilissi – Die Mandelbäume blühen im Kleinen Kaukasus. Im Süden Georgiens nahe der Grenze zu Armenien verbreiten sie auf 2000 Meter Höhe eine erste Ahnung von Frühling in einem Gebiet, das früher meist von Oktober bis Ende April unter einer dicken Schneedecke lag. Doch der Klimawandel hat auch Georgien längst erreicht.

Politisch ist vom Frühling allerdings wenig zu spüren. Im Gegenteil: Seit im Herbst die Partei „Georgischer Traum“ die Wahl gewonnen und den nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs eingeschlagenen Weg in Richtung EU verlassen hat, ist die Großwetterlage frostig. Der Einfluss von Finanziers aus dem Ausland wird nach russischem Vorbild begrenzt, ein Anti-LGBTQ-Gesetz macht der queeren Community Angst, Medien werden drangsaliert, es gibt gezielte Angriffe auf Oppositionspolitiker. Beobachtern zufolge stehen die Zeichen eher auf Eskalation, die Menschenrechtslage verschlechtere sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit.

Drei Busstunden entfernt in der Hauptstadt Tbilissi– oppositionelle Georgier legen Wert darauf, dass nicht der sowjetische Name Tiflis benutzt wird – macht sich Simon Janashia auf den Weg zum Parlament in der Rustaveli-Avenue. „Seit über 120 Tagen komme ich jeden Abend“, berichtet der Lehrer, der in München studiert hat. Von 21 Uhr bis Mitternacht stehen hier Menschen mit georgischen Fahnen auf den Gehwegen. Tag für Tag. Bei Wind, Regen und Kälte demonstrieren sie für Demokratie und den Beitritt zur EU. Das Betreten der Hauptstraße ist verboten. Wer seinen Fuß auf den Boulevard setzt, muss damit rechnen, festgenommen zu werden. Am 29. November war dem Journalisten Aleksandre Keshelashvili vom Magazin „Publika“ die Nase gebrochen worden, als er über die Proteste berichten wollte. „Sie zerrten mich in die Polizeikette und begannen, mich zu schlagen. Nach wenigen Minuten Prügel verhafteten sie mich ohne jede Erklärung“, erzählt er. Sie schlugen ihm auf den Kopf, traten ihn, als er fiel, und nahmen ihm seine Kameras ab. Die Polizei hielt Keshelashvili drei Stunden lang auf der Wache fest, bevor er ins Krankenhaus kam. Im Dezember eskalierten die Krawalle, einzelne Demonstranten griffen zu Flammenwerfern. Die Polizei antwortete mit Tränengas und Wasserwerfern.

Die Polizei hat nun die Taktik geändert. Jetzt setzt sie auf empfindliche Geldstrafen. Freunde von Lehrer Simon mussten Strafen von bis zu 5000 Lari zahlen. Die Hälfte der Arbeitnehmer verdient weniger als 900 Lari – das sind etwa 300 Euro. Mit diesem Druck wolle man die Demos austrocknen. „Viele haben auch ihre Jobs verloren.“ Längst kommen nicht mehr Zehntausende wie zu Beginn, aber gut 1000 Menschen dürften es auch an diesem Abend sein. Viele verbergen ihr Gesicht hinter Schals oder Masken. „Es ist wichtig, dass wir der Regierung Druck machen.“ Wichtig vor allem für die 50 Demonstranten, die noch im Gefängnis sitzen. Elene Devidze (22) hält ein Plakat in Händen, das ihren Bruder Mate (21) zeigt. Er soll drei Polizisten geschlagen haben. Seit Dezember ist er in Haft, dabei „gibt es keine Beweise“, sagt sie. Man versuche einfach, die Menschen einzuschüchtern. Neben ihr hält Marisi Kouskhidze (63) ein Bild ihres Sohnes Tornike (25) hoch. Er wurde vor vier Monaten zu Hause festgenommen, weil er auf der Demo war. „Er sagt, dass er keine Angst hat, weil er unschuldig ist. Irgendwann wird es bewiesen sein.“ Beiden Frauen sieht man die Sorge um ihre Lieben an. Vor den Repressionen der Regierung wollen sie nicht weichen. „Es geht um unsere Freiheit“, sagt Marisi Kouskhidze.

In Georgien kursieren viele Verschwörungstheorien. Vor der Wahl wurde lanciert, der Westen würde als globale Kriegspartei das Land in einen Krieg gegen Russland zwingen. Nur der „Georgische Traum“ könne Frieden garantieren. Präsident ist nun ein Ex-Fußballstar, Micheil Kawelaschwili. Der 53-Jährige, der sogar für Manchester City auf dem Platz stand, gilt als Hardliner. Aber der Strippenzieher ist der Milliardär Bidsina Iwanischwili. Der reichste Georgier kontrolliert die Regierungspartei „Georgischer Traum“. Eine schillernde Figur, die 2006 eines der bekanntesten Gemälde von Picasso, „Dora Maar mit Katze“, für 95 Millionen Dollar gekauft hat. Ein Oligarch mit engen Kontakten zu Putin, der Geschäfte machen will. Es gibt wieder Direktflüge, auch Visa-Liberalisierungen. Salome Surabischvili war die 5. Präsidentin Georgiens. Als unabhängige Kandidatin und erste Frau war sie 2018 ins Amt gekommen. Die Wahl ihres Nachfolgers vom Oktober erkennt sie nicht an, weil sie ihrer Überzeugung nach manipuliert wurde. Iwanischwili ist für sie „Putins Marionette“. Die gebürtige Französin, die Personenschützer braucht, lässt sich aber nicht einschüchtern: „Das georgische Volk wird gewinnen.“

Georgien ist ein Land der Gegensätze. Majestätische Bergmassive, Täler mit sattgrünen Buckelwiesen, mäandernde Flüsse. Auf der anderen Seite gibt es eine marode Infrastruktur vor allem auf dem Land. Menschen leben in Häusern, bei deren Anblick man rätselten, ob sie sich noch im Rohbau befinden oder vor dem Abbruch stehen. In Tbilissi verleihen ultramoderne Hochhäuser und LED-beleuchtete Brücken der Stadt einen jugendlichen Schwung. Auf dem Land versinken bei Regen Straßen im schlammigen Wasser. Was die Menschen eint, ist eine überwältigende Gastfreundschaft. Egal, wie wenig jemand hat, wenn Besuch kommt, biegen sich die Tische.

Die bedrückende Armut scheint der Regierungspartei in die Karten zu spielen. „Die Regierung hat gar kein Interesse daran, dass es den Menschen besser geht“, sagt eine Frau, die anonym bleiben will. Zu groß ist die Angst, dass sie ihren Job verlieren könnte. „Wenn sich die Menschen um ihr tägliches Überleben kümmern müssen, kommen sie nicht auf dumme Gedanken“, scheine die Haltung der Regierung zu sein. Die Unsicherheit ist zum ständigen Begleiter geworden.

Nach vielen Kriegen in der Geschichte mit dem großen Nachbarn (zuletzt der Kaukasuskrieg 2008) sind die Georgier traumatisiert. Einen Überfall aus Russland, das eine über 700 Kilometer lange Grenze mit Georgien hat, befürchten sie weniger. „Die Übernahme der Russen passiert über die Gesetze“, sagen sie. Die Russen seien längst da. Am 14. Dezember 2023, wurde Georgien offiziell zum EU-Beitrittskandidaten ernannt. Knapp eineinhalb Jahre später ist der Traum von Europa in weite Ferne gerückt.
CLAUDIA MÖLLERS

Artikel 2 von 3