Den Tod im Nacken: Thomas Griesbeck hat Alex als kämpfenden Soldaten im Frontgebiet fotografiert. © JACKSCORNER
Alex an der Theresienwiese: Für das Treffen hat er seine Uniform angezogen, zurück an die Front will er nicht mehr. © Thedens
München – Niemand kann ihn übersehen, nicht in diesem Outfit. An einem milden Dienstag im März steht Alex vor einem Münchner Café, eine Hand tief in der Tasche seines Flecktarns vergraben, als ein junger Mann auf ihn zukommt. Leise spricht er ihn an, sagt etwas auf Russisch. Dann schütteln sie sich kurz und fest die Hände. „Er hat mir gedankt“, sagt Alex, als der andere schon nicht mehr zu sehen ist, „für meinen Einsatz.“
Die Begegnung rührt ihn, das spürt man, auch wenn er es nicht zeigt. Alex ist ein kontrollierter Typ, einer, dessen stramme Haltung den Soldaten noch verrät, der er bis vor Kurzem war. Seit Ende Februar ist er in München, mit seiner Frau „und mit der Katze“, sagt er in holprigem Deutsch. Die Stadt gefällt ihnen. „Hier gibt es eine Perspektive auf Arbeit und eine Wohnung.“ In der Ukraine hatte er das Gefühl, die einzige Perspektive sei der Krieg.
Drei Jahre lang kämpfte der 30-Jährige für sein Land. Er lenkte Drohnen, spürte so russische Einheiten in ihren Verstecken auf. Er war bei der Verteidigung seiner Heimatstadt Charkiw dabei und kämpfte in einem Vorort Bachmuts, jener Stadt, die in Medien „Fleischwolf“ und „Hölle“ genannt wurde, weil die Russen dort blindwütig tausende ihrer Kämpfer verheizten. Jetzt sei er müde, sagt Alex. Auch deshalb ist er desertiert.
Es gibt viele wie ihn, Männer, die das Kämpfen leid sind, die keinen anderen Ausweg sehen als die Flucht. In der Ukraine sollen Verfahren gegen rund 100 000 Soldaten laufen, die seit Kriegsbeginn unerlaubt die Truppe verlassen haben. Eine gewaltige Zahl, die in Wahrheit noch deutlich höher sein dürfte. „Auch über mich gibt es jetzt eine Kriminalakte“, sagt Alex. Zu Hause in der Ukraine sucht man nach ihm.
Trotzdem will er seine Geschichte erzählen – so offen wie möglich und so geschützt wie nötig. Die Uniform hat er nur für dieses Treffen angezogen, es war seine Idee. Aber das Abzeichen seiner Einheit, das auf dem linken Ärmel prangt, soll verborgen bleiben, sein voller Name auch. Und so sitzt er jetzt im Café, vor ihm eine Tasse grüner Tee und das Handy als Übersetzungshilfe, und erzählt vom Krieg.
Genau genommen war er besser auf die Katastrophe vorbereitet als die meisten seiner Landsleute. Nach der 9. Klasse besuchte er zwei Jahre lang eine Militärschule, später arbeitete er als Polizist. Auch deshalb fiel es ihm nicht schwer, sich freiwillig zur Armee zu melden. Als die Russen in der Nacht zum 24. Februar 2022 angriffen, wurden er und seine Frau von den lauten Explosionen wach. Sofort brachte er sie mit dem Auto in die westukrainische Stadt Winnyzja in Sicherheit – und schloss sich selbst der Truppe an.
Von dem, was er in den folgenden Monaten und Jahren erlebte, gibt es unzählige Bilder und Videos, alles gespeichert auf seinem Smartphone. Er zieht es aus der Hosentasche, wischt durch die Galerie. Auf manchen Fotos sind seine Kameraden zu sehen, auf vielen er selbst – in Kampfmontur, mit der Fernbedienung einer Drohne, vor zerstörten russischen Panzern. Manchmal seien er und die anderen Soldaten auf bis zu 50 Meter an die Russen herangekommen, erzählt er. „Aus so kurzer Distanz kannst du hören, wie sich der Turm des Panzers dreht.“ Ein Vorbote des Unheils, oft genug auch des Todes. Mindestens sechs seiner Kameraden hat er sterben sehen. „Ich war bei ihnen. Ich hatte einfach mehr Glück als sie.“
Er erzählt das mit großer Ruhe, versucht es immer wieder auf Deutsch, scherzt sogar. Darüber, dass die Katze unbedingt mit nach Deutschland musste und jetzt mit ihm und seiner Frau in der Erstaufnahme lebt, dem „Lager“, wie er sagt. Aber die Erlebnisse aus dem Krieg arbeiten in ihm. Einmal greift er in seine Innentasche und wirft zwei Schulterklappen auf den Tisch, auf jeder kleben drei Sterne. Es seien die eines russischen Offiziers, sagt Alex. Auch sie mussten mit nach Deutschland. „Er war etwa so alt wie ich.“ Und er war der erste Mensch, den er töten musste, um nicht selbst zu sterben.
Das Töten gehört zum Krieg und die Toten gehören jetzt zu ihm. Alex spricht nicht gern darüber, das sei „müßig“, sagt er und knibbelt, die Hände im Schoß, an seinen Fingernägeln. Kann man all das verarbeiten, vielleicht sogar vergessen? Unmöglich, sagt er. „Aber man kann versuchen, ein neues Leben zu beginnen.“
Der Gedanke, dass es dieses neue Leben auch für ihn irgendwo geben könnte, kam ihm zum ersten Mal im Oktober letzten Jahres. Die Russen waren zu diesem Zeitpunkt auf dem Vormarsch, fraßen sich immer weiter in den Osten der Ukraine, eroberten Dorf für Dorf. „Es gab viel schlechte Stimmung in der Truppe“, erinnert sich Alex. Das Kämpfen schien immer aussichtsloser.
Irgendwann griff er zum Handy und schrieb eine Nachricht, Thomas Griesbeck erinnert sich noch ganz gut an den Inhalt. Der Fotograf aus Miesbach war selbst mehrfach in der Ukraine. Dort lernte er Alex kennen, der schon damals ein wenig Deutsch sprach und ihn mit an die Front nahm. Der Kontakt brach danach nie ab, sie schrieben sich, auch im Oktober 2024. „Alex hat mich damals gefragt, ob er nicht auch ein Recht auf Leben hat“, sagt Griesbeck.
Es ist kaum vorstellbar, in wie vielen Soldatenköpfen die Frage dröhnt, mal leiser, mal lauter. Dass die Unzufriedenheit in der ukrainischen Armee wächst, ist kein Geheimnis. Den Soldaten fehlen nicht nur die Erfolgsaussichten, sondern auch die Möglichkeit, sich zu erholen. Auch nach monatelangen Einsätzen werden Urlaube oft nur zögernd genehmigt, auch deshalb, weil es an Männern fehlt, um die Lücke zu füllen. Alex spricht von Korruption in der Armee und davon, dass Kommandeure für Fehlentscheidungen nicht zur Verantwortung gezogen würden. Manchmal gehe es geradezu planlos zu, Soldaten würden ohne ausreichende Ausbildung an die Front geschickt.
Irgendwann war der Frust größer als der Wille weiterzukämpfen – im Januar fasste Alex endgültig den Entschluss zu desertieren. Er sagte es seiner Familie, seiner Frau, alle waren einverstanden. Dann beantragte er Urlaub in Deutschland. Wochenlanges Warten, Ungewissheit und schließlich kam sie doch, die Erlaubnis. Alex packte, seine Uniform, die russischen Schulterklappen, die Katze, das Nötigste. Mit seiner Frau setzte er sich ins Auto, am 20. Februar überquerten sie die ukrainisch-polnische Grenze. Niemand hielt sie auf, er hatte ja Urlaub.
Der Tag, an dem er hätte zurückkehren sollen, war der 8. März, und als es so weit war, als er nicht auftauchte, da begannen Beamte, nach ihm zu suchen. Ehemalige Kameraden hätten ihm das geschrieben, sagt er. Auf Fahnenflucht stehen in der Ukraine mehrere Jahre Haft. Zwar gibt es seit November die Möglichkeit, straffrei zur Truppe zurückzukehren, und glaubt man offiziellen Angaben, dann haben sich bisher mehr als 20 000 Desertierte dafür entschieden. Für Alex aber kommt das nicht infrage, er will nicht zurück.
Er hat nicht seinem Land den Rücken gekehrt, sondern dem Krieg. Ein paar seiner Ex-Kameraden machten ihm deshalb Vorwürfe, sagt er. Aber das seien vor allem die, die nie direkt an der Front waren. Die anderen, die gerade in der Nähe der schwer umkämpften Stadt Pokrowsk stationiert sind, verstünden ihn. „Ich glaube, ich habe genug für die Ukraine getan“, sagt Alex. „Es gibt einfach keine andere Möglichkeit, die Armee zu verlassen. Außer, man wird verwundet. Oder getötet.“ Er hofft auf einen Waffenstillstand, für seine Kameraden an der Front und für die Eltern, die noch in Charkiw sind.
Das Leben in Frieden, das er so lange nicht hatte, muss er jetzt erst wieder lernen. Griesbeck, der Fotograf aus Miesbach, hilft ihm. Kürzlich erst waren sie draußen am Berg, wandern im Schnee, es gibt ein Video davon. Vier Freunde, alle lachen wie befreit. Griesbeck erinnert sich an einen Satz, den Alex da sagte: „Das sind ganz neue Gefühle für mich.“