München – Wie entsteht Spielsucht? Wer ist gefährdet? Und was muss sich hierzulande ändern? Dr. Tobias Hayer forscht an der Universität Bremen zu genau diesen Fragen. Im Interview erklärt der Psychologe und Glücksspielforscher, wie sich Spielsüchtige eine verzerrte Realität konstruieren.
Glücksspiele gibt es seit der Antike. Ist die Suchtgefahr heute größer als früher?
Wir erleben ein uraltes Phänomen in neuen Gewändern. Die Digitalisierung ist der Treiber. Früher musste ich in eine Spielbank oder in ein Wettbüro gehen, um zu spielen. Heute geht das jederzeit per Handy. Ich kenne Betroffene, die noch am Tag ihrer Hochzeit im Standesamt die Toilette aufsuchten, um heimlich eine Wette zu platzieren.
Oft fällt es also gar nicht auf, wenn jemand spielsüchtig ist?
Ja, wir nennen es eine „hidden addiction“, eine verborgene Sucht. Ein Drogenabhängiger zeigt körperliche Symptome und jeder versteht: Dieser Mensch braucht Hilfe. Die Spielsucht hingegen bleibt oft so lange unbemerkt, bis Haus und Hof und sogar noch das Sparschwein der Kinder verzockt sind.
Welche Glücksspiele sind besonders suchtgefährdend?
Erhebungen zufolge bergen virtuelle und analoge Automatenspiele sowie Online-Sportwetten besonders hohe Risiken. Bei Sportwetten sind Live-Wetten am gefährlichsten. Davon kann man mehrere platzieren, während ein Fußballspiel bereits läuft – etwa darauf, welches Team das erste Tor schießt.
Das fördert die Suchtgefahr?
Ja. Wenn leichte Verfügbarkeit auf hohes Spieltempo trifft, wenn Sie in kurzen Abständen immer wieder wetten können – das sorgt für den besonderen Kick. Wer gewinnt, ist euphorisch, will sofort weitermachen. Wer verliert, will den Verlust wettmachen – und spielt ebenfalls weiter.
Was geht im Kopf eines Spielers vor sich?
Spieler konstruieren sich oft eine verzerrte Realität. Eine gewonnene Wette wird gern auf die eigene Expertise zurückgeführt: „Ich lag richtig, weil ich mich auskenne.“ Verluste hingegen schiebt man auf Pech oder äußere Umstände: „Hätte der Stürmer sich nicht verletzt, wäre mein Tipp eingetreten.“
Wer ist vor allem gefährdet?
Statistisch gesehen sind Männer gefährdeter als Frauen. Besonders häufig betroffen sind zudem Menschen mit Migrationshintergrund und – im Falle der Sportwetten – Menschen mit ausgeprägtem Sportinteresse.
Wie groß ist die Gefahr in Sportvereinen?
Deren Mitglieder sind eine Risikogruppe – sie sind überdurchschnittlich oft von Spielsucht betroffen. Hier finden Menschen mit Sportbegeisterung und Ehrgeiz zusammen. Es kann ein Umfeld vorherrschen, in dem das Wetten üblich ist, das begünstigt die Entwicklung einer Sucht.
Sollten Eltern gewarnt sein, deren Kinder zum Sport gehen?
Wir dürfen nicht die vielen positiven Aspekte übersehen, die der Sport für junge Menschen hat. Was ich mir aber wünsche, sind Übungsleiter, die sensibilisiert sind. Die auf Gefahren des Wettens hinweisen – und nicht noch selbst mit dem Hut rumgehen, um Einsätze für gemeinsame Wetten einzusammeln.
Wie gefährlich ist die Werbung für Sportwetten?
Werbung wirkt. Dafür gibt es deutliche Befunde. Sie lockt neue Spieler an und hält Vielspieler bei der Stange. Für Spielsucht-Betroffene, die aufhören wollen, erhöht sie die Gefahr eines Rückfalls.
Was sollte getan werden?
Für andere Glücksspielarten ist Werbung von 6 bis 21 Uhr verboten, für Sportwetten gilt jedoch eine rechtliche Ausnahme. Diese abzuschaffen, wäre der erste Schritt. Darüber hinaus würde ich Werbung fürs Wetten noch weit stärker regulieren.
Wäre das nicht ein zu großer Eingriff?
Blicken wir mal zurück: Der erste Trikotsponsor der Bundesliga war 1973 die Marke Jägermeister. Das wäre heute undenkbar. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Werbung für starken Alkohol im Sport nichts verloren hat. Das würde ich mir fürs Glücksspiel auch wünschen.
Was raten Sie Betroffenen und deren Angehörigen?
Holen Sie sich Hilfe! Es gibt sehr gute Therapieangebote – und Hotlines, an die sich auch Angehörige wenden können. Ebenfalls gut zu wissen: Spieler können sich über ein System namens „OASIS“ für Glücksspiele sperren lassen, das erhöht die Chance, nicht rückfällig zu werden. Je früher man Hilfe sucht, desto besser!
INTERVIEW: JOHANNES PATZIG