Wie weiter? Unionsvertreter diskutieren hitzig auf dem Gang mit der grünen Fraktionsspitze. © dpa
Zufrieden: Alice Weidel (AfD) verfolgt die Sitzung. © afp
Trost ausgerechnet von Saskia Esken im Bundestag. © AFP
Der neue Innenminister Alexander Dobrindt nach der Ernennung durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. © EPA
Charlotte Merz und ihre Töchter Carola Clüsener (l.) und Constanze Merz sitzen vor der Kanzlerwahl auf der Tribüne. © dpa
Durchgefallen im ersten Wahlgang: Friedrich Merz (CDU) erlebt eine dramatische Kanzlerwahl im Bundestag. © Gollnow/dpa
Berlin/München – Er wahrt die Fassung, mühsam. Friedrich Merz steckt seinen Zettel ein, schiebt den Stift hinterher, springt dann auf und eilt aus dem Saal. Wortlos. Starrer Blick. Oben auf der Besuchertribüne sitzen seine Frau und seine zwei Töchter mit versteinerter Miene. Unten im Plenum eilen die wichtigsten Vertrauten Merz hinterher. Es ist der Schockmoment für die deutsche Politik: Der Kanzlerkandidat ist durchgefallen. Der Bundestag bebt.
310:307, das klingt nach knapper Mehrheit, doch es ist ein Desaster: Überraschend und klar verfehlt Merz nämlich die vom Grundgesetz vorgegebene „Kanzlermehrheit“, also eine absolute Mehrheit der Abgeordneten. 316-mal Ja hätte er gebraucht, bei 328 Abgeordneten von Union und SPD, vollständig angetreten, eigentlich kein Hexenwerk. Doch in geheimer Wahl haben ihm mindestens 18 die Gefolgschaft verweigert. Ein Hinterhalt auf Tagesordnungspunkt eins.
Man sieht und spürt das Erschrecken in diesem Moment, auch bei der SPD. Olaf Scholz steht bitterernst und kopfschüttelnd im Saal, kein Hauch von Häme. Er ist nun verpflichtet zum Weiterregieren, wie alle Minister. Wie Untote müssen sie jetzt noch ein paar Stunden in ihre Büros zurückkehren. Die Ersten nennen das eine Staatskrise. Ob er sich freue, ruft ihm ein Reporter zu. Scholz zeigt ihm einen Vogel.
Die erste Krisenrunde trifft sich in Merz‘ Büro, seine Familie kommt mit. Binnen Minuten holen dann Merz und SPD-Chef Lars Klingbeil jeweils ihre Abgeordneten zusammen. Teilnehmer aus der Union schildern, es sei sehr ruhig gewesen, bedrückt, gefasst. „Es ist, wie es ist“, murmelt ein Merz-Mann. Ihren Kanzlerkandidaten empfangen sie mit demonstrativem, langem Beifall, auch wenn alle fürchten: Da klatschen mehrere Verräter mit. Merz schweigt zunächst, lässt seinen neuen Fraktionschef Jens Spahn machen. Der fasst konzentriert, ohne Vorwürfe, ohne Anklage, die Lage zusammen: Für einen schnellen neuen Wahlgang brauche man die Stimmen fast aller Fraktionen, auch der AfD oder der Linken. Wolle man das?
Stundenlang wird hinter verschlossenen Türen verhandelt, Juristen wälzen Bücher. Die Lage ist komplizierter und die Geschäftsordnung unverständlicher, als Laien ahnten: Allmählich dämmert allen im Bundestag, was diese verpasste Kanzlermehrheit regulär bedeuten würde – dass tagelang gar nichts mehr passiert. Keine Spur von „Hoppla, lasst uns schnell noch mal abstimmen“. Wahlgang 2 (Kanzlermehrheit nötig) und Wahlgang 3 (einfache Mehrheit reicht) haben jeweils mehrere Tage Vorlauf. Eine Hängepartie droht, eine Demontage Merz‘, neuer Rückenwind für die AfD, Unruhe an den Börsen, all das weltweit mit Kritik und Spott verfolgt, Tenor: Die Papstwahl geht ja schneller als das.
Die Union dringt deshalb auf einen schnellen zweiten Wahlgang, organisiert die Stimmen für eine Fristverkürzung, umschmeichelt dafür sogar die Linke. Ihre Hoffnung: Die Abweichler haben sich vielleicht abreagiert. Doch ein Restrisiko bleibt. „Dieses Schiff hat ein Leck“, sagt ein hoher CSU-Mann. Der Bundespräsident harrt derweil in Schloss Bellevue aus, seine Termine für die Ernennung des Kanzlers (10:30 Uhr) und seiner Minister (12:30 Uhr) verstreichen.
Sah jemand das kommen? Schnell wird geunkt, nun wisse man, warum die erbitterte Merz-Rivalin Angela Merkel an diesem Morgen selbst auf die Ehrentribüne eilte: Sie habe Merz scheitern sehen wollen. Das mag arg einfach klingen. Auffälliger ist, dass CSU-Chef Markus Söder am Montag schon öffentlich vor einem Unfall warnte, viele überhörten das in der Euphorie. „Vergeigt es nicht“, rief er den Fraktionschefs Jens Spahn (CDU) und Alexander Hoffmann (CSU) zu. Zwischenfazit: Es ist vergeigt.
Söder, an diesem Tag wieder in München zu seiner eigenen Kabinettssitzung, schaltet sich mit SMS in die Krisenrunden kurz ein, telefoniert kurz mit seinem Vertrauten Alexander Dobrindt. Söder meldet sich mittags zu Wort, für seine Verhältnisse düster. „Das Scheitern im ersten Wahlgang ist ein Schaden für unser Land“, sagt er. Es gehe nicht um die Person Merz, sondern um eine ganze Regierung. So etwas sei „ein Vorbote von Weimar“. Sein Appell: „keine Spielchen, keine Denkzettel“. Noch sei „alles lösbar, alles heilbar“.
Jede Partei beteuert für sich: Von uns war es keiner. Von den Heckenschützen outet sich niemand, wissend: Es wäre sein politisches Aus. Der Münchner SPD-Mann Sebastian Roloff hatte vor zwei Monaten noch getönt, er kenne „mehr als drei Hände voll“ mögliche Abweichler. Jetzt beteuert er, für Merz gestimmt zu haben und auch niemanden zu kennen, der dagegen gestimmt habe.
Gemutmaßt wird, wie so oft sei Frust im Spiel nach der Kabinettsbildung. Merz und Klingbeil holten mehrere Externe, übergingen Abgeordnete aus Reihe 2 und 3, die sich für höchstministrabel halten. Die SPD tauschte zudem außer Boris Pistorius alle ihre Ex-Minister aus. Keiner schrie seinen Frust raus, nirgends, aber folgte eine bittere Rache mit dem orangefarbenen Wahlausweis? Bei der SPD sind die Wunden ja noch sehr frisch, das Personalpaket ist erst von Montag. In der CSU erinnern sie daran, es sei vielleicht doch klüger, Personalien wie ursprünglich geplant erst nach einer Kanzlerwahl festzuzurren. In der CDU kursiert aber auch die Deutung, das Riesenschuldenpaket, eigentlich ein dramatisch gebrochenes Wahlversprechen, habe Abgeordnete verstört. Und Merz sei intern kein großer Kommunikator.
Beim Scheitern ist Merkel da. Bei Merz‘ Wahl nicht mehr.
Die Laune an diesem historischen Tag jedenfalls ist verhagelt. Die Sitzung am Morgen hatte die rheinische Bundestagspräsidentin Julia Klöckner noch mit den Worten eröffnet, sie freue sich „über die fröhliche Stimmung im Hause“. Nun ja, die Wiederaufnahme am Nachmittag wird förmlicher. „Ich bedanke mich für Ihre Geduld“, sagt Klöckner, rattert dann Paragrafen herunter. Kurzfassung: Alle Fraktionen stimmen für die Fristverkürzung, auch Linke, auch Rechtsradikale. Merkels Platz auf der Besuchertribüne bleibt diesmal leer. Ein gutes Omen, lästern sie in der Union.
Tatsächlich: Um 16:15 Uhr sickert durch, dass es geklappt habe im zweiten Wahlgang. Wenig später verliest Klöckner das Resultat, 325 Ja-Stimmen diesmal, neun mehr als nötig. Drei Abweichler aus den eigenen Reihen sind es am Ende noch, das ist zu verkraften. Auch wenn wohl noch lange gesprochen werden wird über diesen Schockmoment für Merz. War es nur eine „unnötige Strafrunde“, wie Parteifreunde hoffen, oder der Beginn einer verkorksten Kanzlerschaft?
Friedrich Merz jubelt nicht, er lacht nicht, lächelt nur dünn. Er nickt, steht auf und nimmt die Wahl an.