So erlebte Oberbayern das Kriegsende

von Redaktion

Einwohner und befreite Gefangene beobachten einen Panzer der Alliierten, der durch die Stadt München fährt. © Getty Images

23. Mai 1945: Admiral Dönitz wird abgeführt. Hinter ihm folgen Albert Speer und Alfred Jodl (re.). © Bundesarchiv

Das Ende: Auf diesem Foto vom 8. Mai 1945 verliest der Gefreite Clarence K. Ayers aus Evansville, Indiana, die Nachricht, während neu angekommene deutsche Gefangene auf einem Pier in New York City stehen. © John Rooney/dpa

München/Flensburg – 8. Mai 1945, 23 Uhr: Die Warterei im Hauptquartier der sowjetischen Armee in Berlin-Karlshorst hat ein Ende. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel betritt den Raum, gefolgt von Generaloberst Stumpff für die Luftwaffe und dem Marine-Admiral von Friedeburg. Nur wenige Tage zuvor, am 2. Mai, hat der Kampfkommandant von Berlin aufgegeben und die Stadt an die Rote Armee unter Marschall Georgij K. Schukow übergeben. Nun folgt die Gesamt-Kapitulation in fünffacher Ausfertigung. Die Atmosphäre ist frostig. Der Gruß Keitels mit dem Marschallstab wird ignoriert. Keitel zieht den rechten Handschuh aus, unterschreibt mit Tinte. Nachts um Viertel vor eins, es ist schon der 9. Mai, ist es vollbracht: Deutschland hat endgültig kapituliert, zum zweiten Mal. Die Erst-Kapitulation am 7. Mai früh um 2.41 Uhr hatte Generalfeldmarschall Alfred Jodl im französischen Reims unterzeichnet – schon da hatten alle deutschen Truppenteile den Befehl erhalten, „mit dem 8.5. 23.00 MEZ jede aktive Kampftätigkeit einzustellen“.

„Bitternis“ über den „Zusammenbruch“

Im fernen Garmisch-Partenkirchen wird den Lesern der Lokalzeitung die Kunde vom Waffenstillstand schon am 8. Mai mitgeteilt. „Schluß mit dem Krieg“, heißt es im zweiseitigen „Garmisch-Partenkirchener Tagblatt“, das per Sondererlaubnis der US-Besatzungsmacht erscheinen darf – damals ein Unikat der Zeitungslandschaft. Das Tagblatt zitierte den später hingerichteten Generalfeldmarschall Jodl mit dem Satz: „Mit dieser unserer Unterschrift sind das deutsche Volk und die deutsche Wehrmacht auf Gnade und Ungnade den Siegermächten in die Hand gegeben.“ Die Zeitung relativierte diesen Fatalismus: „Bei aller Bitternis“ über den militärischen Zusammenbruch müsse doch festgehalten werden, dass nunmehr „nutz- und aussichtslosem Blutvergießen ein Ende gesetzt“ sei.

Die Bilanz war ja auch ungeheuerlich: 5,3 der 18 Millionen deutschen Soldaten waren gefallen, dazu 500 000 deutsche Zivilisten infolge des Bombenkriegs und der Kampfhandlungen in Deutschland. Noch viel höher waren die Opferzahlen der Gegner: Allein auf sowjetischer Seite starben neun Millionen Soldaten und 17 Millionen Zivilisten. Dazu Millionen Holocaustopfer. Juden, Sinti und Roma, Widerständler.

Im Mai 1945 mischten sich in die ungeheure Erleichterung über das Ende von Gewalt aber sogleich auch Angst und Zweifel über ein Leben unter fremder Herrschaft. „Die große Mehrheit der Deutschen betrachtete den Sieg der Alliierten wohl nicht als Befreiung“, stellt der britische Historiker Ian Kershaw fest. Man war erschöpft, hatte weder einen revolutionären Impuls wie 1918, noch wollte man in einer Nacht der langen Messer mit der Masse der Nazis abrechnen. Objektiv war es eine Befreiung, subjektiv nach Meinung wohl der meisten Deutschen damals aber eine Niederlage. Der verstorbene Münchner Wilhelm Volkert, ein sehr besonnener Historiker, der das Kriegsende als 17-Jähriger bei Pfronten im Allgäu erlebte, hat das in einem Interview mit unserer Zeitung einmal so erklärt: „Dass die Amerikaner einmarschierten, um Deutschland zu befreien – dieser Auffassung war damals fast kaum einer. Man dachte in den herkömmlichen Kategorien von Sieg und Niederlage. Die Amerikaner gewannen den Krieg, die Deutschen verloren ihn.“ Hartgesottene Nazis waren auch jetzt noch am Boden zerstört. Sein Vorgesetzter, so berichtete der vor Jahren verstorbene Seeshaupter Karl Theodor Emmel unserer Zeitung, war bei der Verkündung der Kapitulation vor deutschen Soldaten auf Kreta „zutiefst erschüttert, er konnte sein Tränen nicht zurückhalten“. Konservative wie der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber registrierten den Kriegsausgang fast missmutig. „Die Besetzung von München durchgeführt“, notierte der Kardinal trocken am 1. Mai in sein Tagebuch. Als wäre das ein bloßer Verwaltungsakt gewesen.

Mehr Überblick über das große Ganze hatte der Dresdner Jude Victor Klemperer, der das Kriegsende in einem Dorf bei Aichach erlebte. „Schauderhafte Kälte, Schnee auf Feldern und Dächern, weiteres Schneien“, notierte er am 2. Mai in sein Tagebuch. „Dies und der ständig fehlende Strom machen das Leben mehr als ungemütlich. Dennoch dominiert das Gefühl des Gerettetseins.“

Eine sprechende Quelle über den Alltag in jenen Tagen ist das Garmisch-Partenkirchener Tagblatt. „Alle wichtigsten Amtsstellen wie Haus der Nationalsozialisten, Bahnhof, Post, Finanzamt, Divisionsgebäude sind militärisch besetzt“, berichtete die Zeitung. Am 9. Mai erschien in dem Blatt eine Verfügung über Straßenumbenennungen – die Adolf-Hitler-Straße war jetzt wieder die Hauptstraße, die Dietrich-Eckart-Straße der Husarenweg. Die Kleinanzeigen in den Tagblatt-Ausgaben jener Tage sind ein Abbild von Sorgen und Nöten. „Tausche goldene Schlüssel-Herrentaschenuhr gegen derbe hohe Straßenschuhe“, hieß es. Oder: „Biete Sommerkleiderstoff – suche gut erhaltenen Kindersportwagen.“ Die örtliche Freibank offerierte per Annonce Pferdefleisch.

Alltagssorgen statt hochtrabender Gedanken über Befreiung oder Niederlage, Besatzung oder demokratischen Neuanfang waren jetzt vorherrschend – was sich auch in den Erinnerungen vieler Zeitzeugen widerspiegelt. Hans Kink aus Garching bei München etwa berichtete für die Ortschronik über einen privaten Glücksfall – sein Vater konnte in einem ehemaligen Wehrmachtslager bei Ismaning Wehrmachtsanzüge ergattern, die die Mama dann für die Kinder umarbeitete. Die Hosen müssen jedoch so kratzig gewesen sein, dass sie sich für den Buben wie „aus reinem Holz“ anfühlten. „Diese Hosen waren für uns ein Horror“, schrieb er.

„Plündern“ tun nur die anderen

Die Nahrungsbeschaffung dauerte täglich Stunden. Nicht nur Hamstern bei den Landwirten wurde notwendig. Kink erinnerte sich auch ans Kartoffel-Klauben und Ähren-Einsammeln (fürs Hühnerfutter). Lindenblüten brocken gehörte ebenso dazu wie Brennholz sammeln („manchmal am Rande der Legalität“) und sogar Tannenzapfen wurden aufgelesen. Umso ärgerlicher war die Anwesenheit jetzt freigelassener KZ-Häftlinge, die in den privaten Erinnerungen vieler Zeitzeugen immer wieder erwähnt werden – Pelzmantel, Schnaps und viele Lebensmittel hätten die eben erst aus dem KZ Dachau befreiten Häftlinge damals in Garching „geplündert“, heißt es bei Hans Kink.

Der Mittenwalder Pfarrvikar Michael Kell schrieb über „Räubereien“ von KZ-Häftlingen, die im Ort „hier hängenblieben“. Dass die Häftlinge zuvor jahrelang drangsaliert, erniedrigt worden waren und dass man ja jetzt auch selbst „plünderte“ – das war schon kurz nach Kriegsende oft in den Hintergrund geraten.

Kurioserweise amtierte auch der von Hitler kurz vor seinem Tod per Testament als Reichspräsident und Staatsoberhaupt eingesetzte „Großadmiral“ Karl Dönitz in seltsamer Verkennung der Lage weiter, als wäre nichts geschehen. Dönitz war auch derjenige, der am Abend des 1. Mai über den Sender Hamburg verkündete, Hitler sei „gefallen“ – dabei hatte sich der Diktator erschossen.

Kapitulation hin oder her, jeden Morgen traf sich ein von Dönitz eingesetztes Kabinett, darunter der später hingerichtete Alfred Jodl, in der Flensburger Marinesportschule zur Sitzung. Sie debattierten sogar die „Frage, ob sie einen Kirchenminister brauchten“, hat Historiker Kershaw recherchiert. Die Briten verhafteten das Geister-Kabinett am 23. Mai.

Der Nazi-Spuk war nun endgültig zu Ende.

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